Wo stehen wir beim europäischen Green Deal?

Rundbrief 2024/1

Zwischenfazit an der Zehn-Kilometer-Marke beim Marathon
der sozial-ökologischen Transformation

Mit dem europäischen Green Deal hat die Europäische Union den Startschuss für eine sozial-ökologischen Transformation Europas gegeben. Doch der Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft hin zu Klimaneutralität und Umweltschutz ist kein 100-Meter-Sprint, sondern eher ein Marathon. Seit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2019 den europäischen Green Deal vorgestellt hat, sind zahlreiche Gesetze zwischen EU-Kommission, EU-Parlament und Minister:innenrat verhandelt worden. Wie sieht es um den Green Deal als Ganzes kurz vor Ende der Legislaturperiode aus?

Eins ist sicher, wir sind in der endenden Legislatur große Schritte vorwärts hin zu einer klimaneutralen, zukunftsfähigen EU gekommen. Bei aller Kritik an dem, was noch fehlt, um diesen Marathon erfolgreich zu meistern und dabei alle mitzunehmen, ist es trotzdem wichtig, die Erfolge anzuerkennen. Kleine Zwischenerfolge zu feiern, hilft schließlich die Motivation aufrechtzuerhalten, und die brauchen wir dringend. Der aktuellen Stand der Green Deal Gesetze ist hier einsehbar[1].

The Good: Große Schritte hin zu einem zukunftsfähigen, klimaneutralen Europa

Ein großer Erfolg ist das „Fit-for-55“-Paket, ein Gesetzesbündel zur Klima- und Energiepolitik der EU für dieses Jahrzehnt, das sicherstellen soll, dass die EU ihr Klimaziel von mindestens 55 % Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2030 erreicht. Das Paket ist vielfältig: Herzstück ist der bestehende Emissionshandel für Energie und die energieintensive Industrie (ETS1), der in den nächsten Jahren um einen weiteren Emissionshandel für den Verkehrs- und Gebäudesektor (ETS2) ergänzt wird. Auch wenn es daran viel berechtigte Kritik und einiges an Verbesserungspotenzial gibt[2], ist es trotzdem ein Erfolg, dass ein Großteil der europäischen CO2-Emissionen hiermit reguliert und gedeckelt werden und mit dem Klimasozialfonds auch die soziale Flankierung von Klimaschutzmaßnahmen angedacht ist. Zentrale Elemente des Pakets sind darüber hinaus Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Stärkung der Energieeffizienz sowie klare Ziele für die Emissionsminderung in vielen Sektoren für die Mitgliedstaaten. Besondere wichtig aus Umwelt-NGO-Sicht sind außerdem ordnungsrechtliche Vorschriften wie das Verbrenner-Aus für Pkw bis 2035 sowie die Gebäudeeffizienzrichtlinie, bei der die Einigung noch aussteht.

 

Der Green Deal geht aber deutlich über das „Fit-for-55“-Paket hinaus. Zu Beginn der Legislatur hat die EU-Kommission noch einige gute Impulse gesetzt, insbesondere mit der Farm-to Fork-Strategie zur nachhaltigeren, gesünderen Produktion von Lebensmitteln und der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung, der Biodiversitätsstrategie zum Schutz und zur Wiederherstellung der Artenvielfalt und dem Aktionsplan Kreislaufwirtschaft zur Minderung des Ressourcenverbrauchs. Jedoch wurden nur Teile dieser Strategien und Pläne umgesetzt. Im Naturschutz ist hier vor allem das EU-Renaturierungsgesetz zu nennen. Dieses Gesetz soll die Wiederherstellung der zahlreichen geschädigten Ökosysteme in der EU voranbringen. Auch wenn das Gesetz auf der Zielgerade noch stark verwässert wurde, ist es trotzdem ein wichtiger Baustein des Green Deals, der in der nächsten Legislatur mit finanziellen Mittel gestärkt werden muss. Bei der Kreislaufwirtschaft sind Erfolge unter anderem das Recht auf Reparatur und die Ökodesign-Verordnung, mit der das Recycling von Produkten gestärkt und die Vernichtung unverkäuflicher Textilien verboten werden. Auch die noch nicht zu Ende verhandelte Verpackungsverordnung, die Verpackungsabfälle reduzieren soll, könnte ein wichtiger Baustein für die Kreislaufwirtschaft sein.

The Bad: Humpelnder Green Deal – Klimaschutz ja, Natur-, Tier- und Umweltschutz Jein  

Allerdings scheint der Wille bei bestimmten Gesetzesideen des Green Deals – insbesondere zur Eindämmung der Biodiversitätskrise – auch in der EU-Kommission zu schwinden: So hat die EU-Kommission anders als ursprünglich angekündigt, die im Green Deal vorgesehene Revision der EU-Chemikalienverordnung REACH aufgegeben und sich damit von der Vision einer giftfreien Umwelt verabschiedet. Gerade zur Ursachenbekämpfung im Landwirtschaftssektor sind in dieser Legislaturperiode sehr viel weniger Verbesserungen angeschoben worden als geplant. Dabei ist Gesetzgebung in der Landwirtschaft ein zentraler Hebel, um die EU nachhaltig, giftfrei, gerechter für Tier und Mensch und klimaneutral zu gestalten. Doch wichtige Initiativen wie das angekündigte Gesetz für nachhaltige Ernährungssysteme, eine Verordnung zur besseren Regulierung von Pestiziden sowie die Überarbeitung der europäischen Tierschutzgesetzgebung hat die EU-Kommission nicht mehr vorgelegt bzw. zurückgezogen. Auch bei den vorgeschlagenen Gesetzen gab es einige Rückschläge. So ist beispielsweise das Bodenschutzgesetz in eine zahnlose Richtlinie zur Bodenüberwachung degradiert worden. Damit steht das Ziel auf der Kippe, gesunde Böden in der EU bis 2050 zu erreichen. Diese sind unverzichtbare Grundlage für vielfältige Ökosysteme, sichere Ernten und eine krisenfeste Landwirtschaft. Auch in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) will die EU-Kommission aktuell Mindeststandards zum Schutz der Umwelt abbauen.

The Ugly: Stolpersteine auf dem Weg hin zur sozial-ökologischen Transformation

Leider sehen wir aktuell, dass die europäischen Parteien und Politiker:innen schon in Wahlkampfstimmung sind und die Stimmen für ein Belastungsmoratorium für Dossiers des europäischen Green Deals immer lauter werden. Angefangen hat diese Tendenz mit dem Aufruf des Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei (EVP) Manfred Weber bei der Abstimmung im EU-Parlament zum Renaturierungsgesetz im Juli an seine christlich-demokratische Parteienfamilie, gegen das Gesetz zu stimmen. Ursula von der Leyen und die EVP scheinen zwar am Green Deal festhalten zu wollen, gleichzeitig werden jedoch beispielsweise in den Diskussionen um das EVP-Parteiprogramm Rufe laut nach einem legislativen Moratorium und sogar der Abschaffung des Verbrenner-Aus für Pkw bis 2035, also eines bestehenden Gesetzes des Green Deals. Die FDP geht sogar so weit, in ihrem Europawahlprogramm mehrere Gesetze wie das Verbrenner-Aus bis 2035, die Gebäudeeffizienzrichtlinie und die Ökodesignrichtlinie abschaffen zu wollen. Diese Haltung würde die soziale Spaltung in Europa drastisch verstärken, wenn die Preise in den verbraucher:innennahen Gebäude- und Verkehrssektoren durch den neuen Emissionshandel (ETS2) steigen werden. Dabei sollte gerade in Krisenzeiten klar sein, dass Klimaneutralität nur Hand in Hand mit sozialer Gerechtigkeit geht.

 

Um den Marathon der sozial-ökologischen Transformation durchzuhalten, sollten wir uns keine Steine selbst in den Weg legen. Dazu gehört, dass wir Gerechtigkeit als Basis der sozial-ökologischen Transformation immer mitdenken. Die sozial-ökologische Transformation kann nur gelingen, wenn alle Menschen in der EU dazu befähigt sind, diese mitzugestalten, denn so erhöht sich die Akzeptanz für Klima- und Umweltschutz in der Bevölkerung. Durch die Gleichstellung der Geschlechter und Berücksichtigung marginalisierter Gruppen können soziale Ungleichheit und Umweltverschmutzung reduziert und gesellschaftliche Teilhabe erhöht werden. Daher müssen soziale und ökologische Fragen viel mehr zusammengedacht und ökologisch wirksame Preissignale sozial gerecht abgefedert werden. Beim Klimaschutz heißt das beispielsweise, dass Finanzinstrumente wie der Klimasozialfonds dringend gestärkt werden müssen. Marktbasierte Instrumente zur CO2-Bepreisung wie der ETS2 müssen dringend von Ordnungsrecht wie Sanierungsstandards im Gebäudesektor begleitet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass der soziale Frieden erhalten und die Wärme- und Mobilitätswende gelingt, indem alle Menschen unabhängig von ihrer ökonomischen oder sozialen Situation am ökologischen Fortschritt teilhaben können.

Das Ziel fest im Blick: Wie weiter mit dem Green Deal?

Die letzten Jahre haben gezeigt: Die EU hat mit dem Green Deal einen guten Start hingelegt. Doch jetzt braucht es Durchhaltevermögen. Es bedarf einer konsequenten und ambitionierten Umsetzung und einer Weiterentwicklung in der nächsten Legislaturperiode, damit die EU klimaneutral, nachhaltig und resilient wird. Dafür sind die EU-Wahlen im Juni 2024 und das kommende Arbeitsprogramm der dann neuen EU-Kommission entscheidend. Zentral wird hier sein, die sozial-ökologische Transformation mit starken Initiativen voranzubringen, indem beispielsweise die Landwirtschaft ökologischer, sozialer und klimafit gemacht oder der Verkehrssektor elektrifiziert und auf die Schiene gesetzt wird. Wichtig ist, sämtliche Finanzmittel klar an die Erfordernisse zur Realisierung des europäischen Green Deals anzupassen und mehr Konsistenz zwischen öffentlicher Umwelt- und Finanzpolitik zu schaffen. All das fordern 95 DNR-Mitgliedsorganisationen in ihren Europawahlforderungen[3].

 

Die aktuellen Zahlen sind leider eindeutig: Die Rechtextremen und -konservativen Fraktionen könnten im nächsten EU-Parlament einen riesigen Zuwachs bekommen, eine Mehrheit für mehr Klima- und Umweltschutz wird dann immer unwahrscheinlicher. Gerade angesichts dieses rasanten Zuwachses an rechtspopulistischen und europafeindlichen Kräften müssen die europäischen Bürger:innen und Parteien jetzt alles daran setzen, die Demokratie zu stärken, nicht zuletzt, um die konsequente Weiterführung und Umsetzung des europäischen Green Deals sicherzustellen. Darüber werden wir bei der Europawahl am 9. Juni 2024 entscheiden: Uns darf jetzt nicht die Puste ausgehen hin zu einer nachhaltigeren, gerechteren, klimaneutralen und menschlicheren EU.

 

Die Politikwissenschaftlerin Elena Hofmann ist Koordinatorin für die Europawahl und Referentin für EU-Klimapolitik beim Deutschen Naturschutzring.

Quellen:

[1] European Parliament: Legislative Train Schedule – A European Green Deal.

[2] DNR (2022): Fit for 55: Jumbo-Trilog gebiert Mäuse mit Potenzial.

[3] DNR (2023): Natürlich Europa – Wir haben die Wahl.

Bild: geralt/Pixabay

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