Wer kümmert sich um euren Plastikmüll?

Rundbrief 2024/1

Ein Einblick in das Leben von Müllsammler:innen in Indien

Müll und explizit Plastikmüll verursacht ökologische und soziale Probleme in Indien. In diesem Müll leben sogenannte Wastepicker (Müllsammler:innen), die täglich enorm mit diesen Problemen konfrontiert sind. Es gibt aber Initiativen, die nicht nur die Belastung durch Plastikmüll reduzieren, sondern mit innovativen Lösungen gegen die Plastikverschmutzung vorgehen. Sie zeigen mit vielen Beispielen, wie die Bedrohung durch Plastik auf lokaler, regionaler und globaler Ebene zu bewältigen ist.

Jeden Tag lese ich Berichte, in denen Kunststoffe im menschlichen Blut, der Muttermilch, der Plazenta, dem Fruchtwasser und sogar im Fötus nachgewiesen werden. Auch in unseren Lebensmitteln sind sie zu finden. Als Mutter mache ich mir Sorgen, ob ich meinem Kind Plastik zuführe und ob es Alternativen gibt. Wenn ich über Plastik nachdenke, über das Ausmaß der Plastikverschmutzung, die Chemikalien in Plastikprodukten und die enormen Auswirkungen, die sie auf unsere Gesundheit haben, insbesondere auf die gefährdeten Bevölkerungsgruppen – Müllsammler:innen, informelle Recycelnde und Gemeinden, die in der Nähe von Mülldeponien und Abfallbehandlungsanlagen leben, Frauen und Kinder – frage ich mich, warum wir bei etwas versagen, von dem wir seit Jahrzehnten wissen, wie es zu handhaben ist.

Die Verschmutzung von Kunststoffen zieht sich durch den gesamten Lebenszyklus und wirkt sich auf das Meeresleben, die biologische Vielfalt und auch auf die Herstellenden, die Abfallentsorgenden und die Verbrauchenden aus. Am stärksten betroffen von der toxischen Verschmutzung sind Randgruppen, insbesondere Frauen.

Die Menschheit erzeugt seit jeher Abfälle und auch die Methoden der Abfallbehandlung werden seither praktiziert. Allerdings haben sich Menge und Zusammensetzung der Abfälle im Laufe der Jahre verändert, und wir erzeugen heute mehr Kunststoffabfälle. Entwicklungsländer wie Indien produzieren mehr Bioabfall als anderen Müll, haben aber mit Bergen von ungetrennten Abfällen zu tun: Plastik-, Sanitär-, Elektronik-, Kommunal- und sogar medizinischer Abfall. Nach Angaben des Central Pollution Control Board (CPCB) fallen in Indien jährlich etwa 3,6 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle an, obwohl das Land über spezifische Abfallvorschriften verfügt und mehrere Verbote für Einwegplastik erlassen hat. Im Jahr 2020 wurden 2,9 Millionen Tonnen Plastikabfälle aus der EU importiert.[1]

Die Hauptlast zur Beseitigung dieses Müllberges tragen die Müllsammler:innen, darunter Frauen und Kinder, informelle Recycelnde und Anwohner:innen. Der informelle Recycling-Sektor ist in Indien riesig. Die Menschen arbeiten größtenteils auf engstem Raum (und in Wohngebieten) ohne angemessene Technologie und persönliche Schutzausrüstung und gefährden für einen geringen Tageslohn die Gesundheit von sich, ihren Familien und die der Gemeinschaft.

Auf einen Spaziergang mit Geeta

Geeta, eine 26 Jahre alte schwangere Frau, geht Hand in Hand mit ihrer dreijährigen Tochter Stuti auf einem großen Berg in Delhi spazieren. Dies ist kein Szenario aus einem Mutter-Tochter-Urlaub, sondern ein Beispiel aus dem Alltag der Müllsammler:innen in Delhi. Geeta und Stuti gehören zu den Tausenden von Menschen, die einen Großteil ihrer Tage damit verbringen, auf den 65 Meter hohen Müllberg der Ghazipur-Mülldeponie in Delhi zu klettern und dort Plastik, Metall und andere wiederverwertbare Abfälle zu sammeln. Viele Menschen leben in dem Gebiet, das von Müllhaufen umgeben ist, die einen schrecklichen Gestank, Rauch, Feuer und schwarzes Wasser verbreiten. Dies ist die Realität vieler Frauen, Kinder und anderer vulnerabler Bevölkerungsgruppen, die tagtäglich damit konfrontiert sind und unter den direkten und indirekten Folgen leiden, z. B. dem Stechen an gebrauchten Spritzen, dem Einatmen giftiger Rauchgase aufgrund von Bränden und anderen gesundheitlichen Auswirkungen wie Entwicklungs-, Fortpflanzungs- und neurologischen Störungen.

Wie wird der Abfall bewirtschaftet?

Die Abfallentsorgung ist durch private Agenturen organisiert, die im Auftrag von Gemeinden oder auch Privatpersonen den Müll abholen. Die Agenturen bringen den Müll zu einer städtischen Deponie. Da es keine wirksamen Behandlungsanlagen oder Mülltrennung gibt, lagern häufig gemischte Abfälle auf den Deponien. Ab hier übernimmt der informelle Sektor. In Indien werden, wie in den meisten Entwicklungsländern, die Abfallströme, einschließlich Kunststoffe, vom informellen oder unorganisierten Sektor bewirtschaftet. Schätzungen zufolge gibt es in Indien 1,5 bis 4 Millionen Müllsammler:innen, die Abfälle aufsammeln, reinigen, sortieren und recyceln und sie in der Wertschöpfungskette weiterverkaufen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) definiert den informellen Sektor der Abfallwirtschaft als Einzelpersonen oder Klein- und Kleinstunternehmen, die an der Abfallbewirtschaftung beteiligt sind, ohne registriert zu sein und ohne formell mit der Erbringung von Abfallbewirtschaftungsdienstleistungen beauftragt zu sein. Diese nicht registrierten Gruppen bewirtschaften Abfälle im ganzen Land, vor allem in den städtischen Gebieten, wo das Abfallaufkommen enorm ist, aber kein angemessenes Entsorgungssystem vorhanden ist.[2]

Das hat soziale Auswirkungen auf diejenigen, die in der Nähe der Mülldeponien leben. Das Kastensystem spielt hierbei eine wichtige Rolle, da vor allem Angehörige niedriger Kasten und einkommensschwacher Gruppen oder bestimmter Kasten, die früher als Unberührbare bezeichnet wurden, in der Regel in der Nähe der Mülldeponie leben und die schmutzige Arbeit des Sammelns ausüben.

Die Lösungen liegen parat

Es gibt zahlreiche inspirierende Geschichten, in denen sich die Müllsammler:innen aus der schmutzigen Arbeit erhoben und etwas Schönes geschaffen haben. Eine Gruppe ist die Frauenorganisation Gulmeher in Delhi. Diese Gruppe sammelt im Müll jetzt Blumen, Stoffe und Papier, um daraus schöne Produkte herzustellen und gleichzeitig den Frauen in der Gegend von Ghazipur ein Einkommen zu verschaffen.

Die Zivilgesellschaft in Indien hat viel Arbeit vor Ort geleistet, indem sie mit Gruppen zusammengearbeitet hat, die aus Einwegplastikabfällen nützliche oder dekorative Materialien herstellen, das Bewusstsein für die Plastikverschmutzung geschärft und über verfügbare Alternativen informiert haben, Strandsäuberungen organisiert haben etc.

Traditionell werden viele Praktiken, mit Plastik umzugehen, von den Gemeinden übernommen. In vielen Teilen des Landes werden anstelle von Einwegplastikbesteck und -tüten lokale Materialien wie Bagasse, Blätter, Jute und Stoffe verwendet. Frauengruppen, lokale Nichtregierungsorganisationen und weitere Organisationen arbeiten ebenfalls auf kreative Weise an der Bewirtschaftung von Plastikmüll. Die Organisation Conserve India arbeitet z.B. mit weiblichen Flüchtlingen in Delhi zusammen, die Einweg-Plastiktüten verwenden und daraus modische Produkte wie Handtaschen entwickeln.

Es gibt auch zahlreiche Beispiele, in denen die Abfallbewirtschaftung effizienter ist, bspw. in der Stadt Indore. In den letzten sieben Jahren stand Indore auf Platz 1 der saubersten Städte des Landes. Schlicht aus dem Grund, dass die Behörden gewillt sind, etwas zu ändern, und diesen Willen auf die Abfallerzeuger übertragen. Wenn man sich mit der Bevölkerung unterhält, mit den Besitzer:innen von Lebensmittelständen, Müllsammelnden, Lebensmittelgeschäften, Restaurantangestellten, erzählen alle, wie wichtig die Mülltrennung ist und wie man den Müll trennt. Die Stadt hat Einwegplastik verboten und recycelt über 50 % ihres Plastikmülls, um die offene Verbrennung von Plastik zu reduzieren und so die Luftverschmutzung im Ort zu verringern.

Ein weiteres Beispiel stammt aus Alappuzha, einer kleinen Küstenstadt im Bundesstaat Kerala. 2017 schloss die Stadt die örtliche Mülldeponie, trotz Protestes der Anwohner:innen. Als der Müll sich in den Straßen sammelte, beschloss die Stadt, ihn direkt an der Quelle zu bekämpfen. Durch effektive Mülltrennung werden Bioabfälle kompostiert und trockene Abfälle direkt an Recyclingunternehmen weitergeleitet.

Der Weg nach vorne

Das Problem der allgemeinen Abfallbewirtschaftung, einschließlich Kunststoffen, ist vielschichtig und hat nicht nur ökologische, sondern auch soziale Auswirkungen. Die Welt muss die Rolle der marginalisierten Gemeinschaften, insbesondere der Frauen, anerkennen und sicherstellen, dass sie ihr Menschenrecht auf eine saubere und gesunde Umwelt erhalten. Ein so vielfältiges Land wie Indien hat zwar unterschiedliche Probleme mit der Plastikverschmutzung, bietet aber auch unterschiedliche Lösungen. Alles, was es braucht, ist Anerkennung und Umsetzung auf nationaler Ebene, damit die Gruppen mit Ressourcen ausgestattet werden, um ihre Arbeit unter sicheren Bedingungen fortzusetzen und gleichzeitig das Problem der Plastikverschmutzung anzugehen und zum globalen Kampf für eine plastikfreie Zukunft beizutragen.

Tripti Arora ist Koordinatorin für Südostasien und Gender-Koordinatorin beim International Pollutants Elimination Network (IPEN) und arbeitet bei Toxics Link in Indien. Übersetzt aus dem Englischen von Tom Kurz

 

Quellen:

[1] Phillipp Saure (2020): Kehrwende bei Müllexporten? In Welt-Sichten. https://www.welt-sichten.org/artikel/37708/kehrtwende-bei-muellexporten

[2] Toxics Link (2020): Single Use Plastic. The last Straw. https://toxicslink.org/wp-content/uploads/2022/08/Final%20Report%20Single%20Use%20Plastic.pdf

Bild: © UNDP

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