Ungleichheiten schaffen Ungleichheiten

Rundbrief 2023/3

Die migrantische Perspektive auf das Ziel 10 

Normalerweise werden die SDGs aus einer privilegierten weißen Perspektive betrachtet. Dieser Text soll daher die migrantische Perspektive auf die Umsetzung des SDG 10 vermitteln.  

„Weniger Ungleichheiten“, so heißt das Ziel 10 der SDGs. Mit anderen Worten: Allen Menschen auf dieser Erde soll es gleich gut gehen. Alle Menschen sollten gleiche Möglichkeiten bekommen, „unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Herkunft oder sozialem und wirtschaftlichem Status“.[i] 

Ein sehr ambitioniertes Ziel, denn laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) leben 71 % der Menschen in Ländern, in denen seit dem Jahr 1990 die Ungleichheit steigt, wo über 100 Millionen Menschen auf der Flucht sind und jede fünfte Person diskriminiert wird.[ii] Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt, u.a. durch die Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die Energie- und Klimakrise. Das Ziel „weniger Ungleichheiten“ scheint unerreichbar zu sein. Viele der Unterziele klingen an manchen Stellen fast wie ein Schlag in die leeren Mägen der Menschen im Globalen Süden. 

Sichere Migration – Refugees welcome? 

Neben der Bekämpfung der Einkommensungleichheit sind im SDG 10 auch Unterziele für eine geregelte und sichere Migration festgeschrieben. Angesichts der heutigen Situation mit den aktuell geplanten Maßnahmen an den EU-Grenzen passiert genau das Gegenteil. 

Und nicht nur Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, leiden unter der aktuellen Politik der Abschottung. Auch in Deutschland lebende Menschen mit Einwanderungsbiografie bleibt das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt. Um dieses Recht zu verwirklichen, müsste gegen die vielen Formen von rassistischer Gewalt vorgegangen werden: gegen den Alltagsrassismus und die Angst, denen Geflüchtete, Migrant:innen und nicht weiße Personen, insbesondere Frauen, täglich ausgesetzt sind. Zum Beispiel zeigt die Studie „Lagebild Rassismus in Mecklenburg-Vorpommern“ deutlich, dass Angst für Menschen mit Migrationsgeschichte zum Alltag gehört und fast wie beiläufig in die Tagesplanung integriert wird. Tägliche Entscheidungen, z.B. zum Einkaufsort, zu täglichen Wegen oder der Nutzung von Verkehrsmitteln oder Spielplätzen werden in der Erwartung von Bedrohung oder Diskriminierung getroffen. Durch reproduzierte Rassismen, Beleidigungen und Bedrohungen wird so eine „Umgebung der Angst und Gefahr“ [iii] erzeugt. Gegen Alltagsrassismus muss sich die gesamte Gesellschaft einsetzen. Wir benötigen noch mehr politische Bildung, schon im Kindergartenalter. Um mit dem Thema Diversität und Ankommen von Menschen mit Einwanderungsbiografie voranzukommen, werden Empowerment- und Antirassismus-Trainings benötigt. 

Teilhabe ohne Ungleichheiten – Wahlrecht, Integrationsgesetze und Migrantenbeiräte 

Eine mögliche Maßnahme gegen diese Problematik wäre die Einführung eines generellen kommunalen Ausländerwahlrechts ohne Einschränkungen. Viele Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, dürfen nicht wählen, denn „das Grundgesetz schließt die Teilnahme von Ausländer:innen an Wahlen sowohl auf der staatlichen als auch auf der kommunalen Ebene grundsätzlich aus“.[iv]  

Das muss geändert werden, denn auch das Wahlrecht für alle ermöglicht weniger Ungleichheiten in der Gesellschaft. Ein „Migrantenbeirat“ kann ohne Zweifel die demokratische Kultur stärken, aber er ersetzt nicht die politische Teilhabe der Menschen mit Einwanderungsbiografie. In den letzten Jahren haben viele Bundesländer neue Integrationsgesetze verabschiedet, oder bereiten diese vor, was eine positive Entwicklung ist. Die Wirkung der Gesetze bleibt aber noch zu evaluieren. Eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration zeigt, dass die Bundesländer mit ihren jeweiligen Gesetzen die Bedeutung von Integrationspolitik hervorheben und den Rahmen dafür abstecken. Strukturen der Koordination und Mitwirkung in der Integrationspolitik können durch Integrationsgesetze auf Landesebene geschaffen oder gestärkt werden. Wie diese Gesetze letztlich wirken, hängt laut dieser Studie aber von der politischen Umsetzung der jeweiligen Gesetze ab. Die Gesetze allein könnten keine „sachgerechte Integrationspolitik“ oder „bessere Teilhabemöglichkeiten garantieren“.[v] 

Dieser Artikel soll als Impuls dienen: Die migrantische Perspektive auf die Umsetzung der SDGs muss mitgedacht werden, weil inzwischen jede vierte Person in Deutschland eine Einwanderungsbiografie hat. Durch die konsequente Umsetzung eines generellen kommunalen Ausländerwahlrechts, die Bekämpfung des Rassismus und Rechtextremismus und die Einführung von Integrations- und Teilhabegesetzen würden die Ungleichheiten in jedem Fall weniger spürbar.

 

Autorin:

Jana Michael ist Integrationsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande für ihr Engagement in der Einwanderungsgesellschaft. 

 

 

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