SDG Halbzeitbilanz

Rundbrief 2023/3

Viel Schatten – wenig Licht

Das Jahr 2023 markiert die Halbzeit bei der Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs). Dass die Zwischenbilanz angesichts verschärfter Krisen und Konflikte düster ausfällt, ist keine Überraschung. Ein Lichtblick sind die Veränderungsprozesse, die die Agenda 2030 vor allem auf kommunaler Ebene ausgelöst hat. Entscheidend für Erfolg oder Scheitern der Nachhaltigkeitsagenda wird in der zweiten Halbzeit aber sein, ob die Länder des Globalen Nordens, allen voran die USA und die Länder der EU, die notwendigen Mittel zur Umsetzung der SDGs mobilisieren und zu den überfälligen Reformen in der globalen Finanzarchitektur bereit sind.

Die Agenda 2030 war ein diplomatisches Meisterstück. Sie wurde ausgehandelt, nachdem Russland 2014 die Krim annektiert hatte, was Wirtschaftssanktionen und den Ausschluss Russlands aus dem Kreis der G8-Staaten zur Folge hatte. Dennoch gelang es, in New York die SDGs zu vereinbaren und mit der Agenda 2030 im Konsens zu verabschieden. Dies zeigt, dass diplomatische Einigungen auch in Zeiten geopolitischer Konfrontationen möglich sind. 

Alarmruf zur Halbzeit 

Aber acht Jahre später ist es „an der Zeit, Alarm zu schlagen. Auf halbem Weg zum Jahr 2030 sind die Ziele für nachhaltige Entwicklung in großen Schwierigkeiten“, konstatierte der UN-Generalsekretär António Guterres in seinem Fortschrittsbericht über die Umsetzung der SDGs.[i] Zur Halbzeit sind die Länder nur bei höchstens 15 % der Zielvorgaben im Plan. Bei fast 50 % sind die Fortschritte unzureichend und bei 37 % stagniert die Entwicklung oder sie läuft sogar in die falsche Richtung. Armut, Hunger und globale Ungleichheit haben infolge der Krisen der letzten Jahre wieder zugenommen, das Artensterben setzt sich ungebremst fort, die Klimakrise führt zu immer verheerenderen Extremwetterereignissen und die Zahl gewaltsamer Konflikte ist nach Angaben des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung weltweit im Jahr 2022 auf 216 gestiegen.[ii]  

Der Ukrainekrieg ist nur einer von ihnen, aber zweifellos der Konflikt mit den gravierendsten Auswirkungen für große Teile der Menschheit. Am deutlichsten zu spüren ist das bei der Ernährungssicherheit und der Energieversorgung. Die Weltmarktpreise für Getreide, Erdöl und Erdgas waren im vergangenen Jahr auf Rekordniveau gestiegen und lösten eine Inflationsspirale mit massiven Folgen aus. Die Global Crisis Response Group der Vereinten Nationen warnte vor der bislang schwersten Krise der Lebenshaltungskosten in diesem Jahrhundert.[iii] Als Reaktion darauf sind die Notenbanken, allen voran die US-amerikanische Federal Reserve und die Europäische Zentralbank von ihrer Niedrigzinspolitik abgerückt. Die steigenden Zinsen drohen nun in vielen Ländern des Globalen Südens eine neue Welle von Schuldenkrisen auszulösen – und damit die Verwirklichung der SDGs zusätzlich zu erschweren.  

Angesichts dieser Situation richtete der UN-Generalsekretär einen dramatischen Appell an die Staatengemeinschaft: 

„Wir können nicht einfach weitermachen wie bisher und ein anderes Ergebnis erwarten. Wir können nicht mit einem moralisch bankrotten Finanzsystem weitermachen und von den Entwicklungsländern erwarten, dass sie Ziele erreichen, die die Industrieländer unter weitaus weniger schwierigen Bedingungen erreicht haben.“[iv]

Um die SDGs noch zu erreichen, forderte Guterres einen Rettungsplan für die Menschen und den Planeten (A Rescue Plan for People and Planet), den die Staats- und Regierungschefs beim SDG-Gipfel am 18 und 19. September 2023 in New York beschließen sollten. Er sollte folgende drei Bereiche umfassen: 

  • Die Stärkung der Governance und der Institutionen für eine nachhaltige und integrative Transformation, inkl. der Stärkung von Städten und Kommunen  
  • Die Priorisierung von Politiken und Investitionen, die Multiplikatoreffekte für alle Ziele haben, z.B. im Rahmen der sogenannten Partnerschaften für eine gerechte Energiewende (Just Energy Transition Partnerships)  
  • Die Erhöhung der SDG-Finanzierung und Sicherstellung günstiger globaler Rahmenbedingungen für die Länder des Globalen Südens, inkl. eines SDG-Konjunkturprogramms (SDG Stimulus) von 500 Mrd. US-Dollar pro Jahr 

Obwohl Guterres‘ Plan hinreichend allgemein gehalten war, war er dennoch hochumstritten. Vor allem die USA und einige Verbündete lehnten den Vorschlag für ein SDG-Konjunkturpaket und auch für andere Formen der SDG-Finanzierung vehement ab. Dahinter steht die grundsätzliche Kontroverse über die Frage, welche Rolle die Vereinten Nationen bei der Reform der Internationalen Finanzarchitektur gegenüber den vom Westen dominierten Finanzinstitutionen, allen voran dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, spielen sollen. Die in der Gruppe der 77 (G77) zusammengeschlossenen Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas setzen auf die Vereinten Nationen mit ihrem Prinzip „Ein Land – Eine Stimme“. Die westlichen Länder sehen das Mandat für die internationale Finanzpolitik vor allem bei IWF und Weltbank, in denen das Prinzip „Ein Dollar – Eine Stimme“ gilt.  

SDG-Gipfelerklärung: Viel Commitment – wenig Action 

Das offizielle Ergebnis des SDG-Gipfels 2023, die politische Erklärung der Staats- und Regierungschefs, wird den Erwartungen an einen „Rettungsplan“ kaum gerecht.[v] Die Erklärung enthält in blumiger Prosa Verpflichtungen zu mutigem transformativem Handeln, internationaler Solidarität und der Bekämpfung von Rassismus und aller Formen von Diskriminierung. Außerdem enthält sie einen Aktionsaufruf, mit dem die Regierungen hauptsächlich an sich selbst appellieren, mehr für die Umsetzung der Agenda 2030 zu tun. Viele Aussagen bleiben aber vage, wurden im Laufe der Verhandlungen verwässert und haben für die Regierungen keine unmittelbaren Konsequenzen. Zum geforderten SDG-Konjunkturprogramm heißt es beispielsweise nur noch: „Wir begrüßen die Bemühungen des Generalsekretärs, die SDG-Finanzierungslücke mit einem SDG-Konjunkturpaket schließen zu wollen.“ (Pkt. 38, t, iv). In allgemeinen Worten sagen die Regierungen zu, die Vorschläge zeitnah voranzutreiben. Der Vorschlag, Sonderziehungsrechte des IWF den Ländern, die sie am dringendsten benötigen, zur Verfügung zu stellen, wurde zwar aufgenommen, auf Druck der USA aber nur auf freiwilliger Basis („We call for an urgent voluntary re-channeling of Special Drawing Rights (…)“ (Pkt. 38, t, vii). Bemerkenswert ist immerhin die Verpflichtung zu inklusiven zwischenstaatlichen Diskussionen über die Reform der internationalen Finanzinstitutionen, unter anderem in den Vereinten Nationen. Hier kann sich bis zum UN-Zukunftsgipfel im September 2024 möglicherweise eine neue politische Dynamik entwickeln. 

Und Deutschland?  

Auch Deutschland ist bei der SDG-Umsetzung nicht im Plan. Von den 75 Schlüsselindikatoren und Zielen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist der Trend bei 30 Indikatoren positiv, bei 29 Indikatoren ist das Tempo des Fortschritts zu niedrig, um die Ziele bis zum Jahr 2030 zu erreichen, und bei sieben Indikatoren geht die Entwicklung in die falsche Richtung.[vi] Und selbst diese Bewertung ist zu positiv, weil sie die negativen externen Effekte deutschen Konsumierens und Produzierens im Ausland zu wenig berücksichtigt. Gemessen an den CO2-Emissionen, am Flächenverbrauch und dem Wasserverbrauch von Importgütern lebt die deutsche Bevölkerung weiterhin auf zu großem Fuß. Gerade diese Spillover-Effekte müssen bei der Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die im Herbst 2023 beginnt, daher stärker berücksichtigt werden.  

Ein Lichtblick sind immerhin die Veränderungsprozesse, die die Agenda 2030 und ihre Ziele auf lokaler Ebene in Gang gesetzt haben. Mehr als 230 Städte, Kreise und Gemeinden haben bisher eine Musterresolution zur Unterstützung der Agenda 2030 unterzeichnet. Das Spektrum reicht von Freiburg im Süden bis Kiel im Norden und von Aachen im Westen bis Greifswald im Osten. Dutzende von Städten haben beschlossen, auf Basis der Agenda 2030 integrierte Nachhaltigkeitsstrategien zu erarbeiten. Unter ihnen sind Großstädte wie Dortmund, Essen und Bonn, aber auch kleinere Städte wie Arnsberg, Bad Berleburg und Bedburg. Eine wachsende Zahl von Städten und Regionen berichtet über ihre Bemühungen bei der Umsetzung der Agenda 2030 im Rahmen sogenannter freiwilliger lokaler Berichte (Voluntary Local Reviews, VLRs) direkt an die Vereinten Nationen. Aus Deutschland war das in diesem Jahr unter anderem Hamburg.  

Die vielfältigen kommunalen Initiativen sind kein Ersatz für die notwendigen politischen Maßnahmen und Reformen auf nationaler und globaler Ebene. Sie zeigen aber immerhin, dass die Agenda 2030 und ihre Ziele weiterhin eine gewisse Mobilisierungswirkung „an der Basis“ haben. Das ist allerdings auch bitter nötig, denn ohne das Engagement von Zivilgesellschaft und Kommunen wird es bei der Verwirklichung der SDGs keine Fortschritte geben. 

 Autor:

Jens Martens ist Geschäftsführer des Global Policy Forums Europe und Mitautor des Reports „Halbzeitbilanz der Agenda 2030 – Die globalen Nachhaltigkeitsziele auf dem Prüfstand“.

 

  • [i] UN Secretary-General (2023): Progress towards the Sustainable Development Goals: Towards a Rescue Plan for People and Planet. Report of the Secretary-General (Special Edition). New York: UN General Assembly and ECOSOC (UN Dok. E/2023/64) (https://hlpf.un.org/sites/default/files/2023-07/SDG%20Progress%20Report%20Special%20Edition.pdf).
  •  [ii] Heidelberg Institute for International Conflict Research (2023): Conflict Barometer 2022. Heidelberg (https://hiik.de/konfliktbarometer/aktuelle-ausgabe/).
  • [iii] Global Crisis Response Group on Food, Energy and Finance (2022): Global Impact of the war in Ukraine: Billions of people face the greatest cost-of-living crisis in a generation (Brief 2, 8. Juni). New York/Genf: UN (https://bit.ly/GCRG-Brief-02). 
  • [iv] UN Secretary-General (2023), Pkt. 8.
  • [v] UN General Assembly (2023): Political Declaration to be adopted at the High-level Political Forum on Sustainable Development (HLPF), under the auspices of the General Assembly in September 2023. New York (UN Dok. A/HLPF/2023/L.1) (https://hlpf.un.org/sites/default/files/2023-09/A%20HLPF%202023%20L1.pdf).
  • [vi] Bundesregierung (2021): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie – Weiterentwicklung 2021. Berlin (https://www.bundesregierung.de/resource/blob/998194/1875176/3d3b15cd92d0261e7a0bcdc8f43b7839/deutsche-nachhaltigkeitsstrategie-2021-langfassung-download-bpa-data.pdf)Bei neun Indikatoren ist nach den Worten der Bundesregierung statistisch derzeit keine richtungssichere Einschätzung des Indikators möglich. 

 

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