Hat die globale Nachhaltigkeitsagenda noch eine Chance?  

Rundbrief 2023/3

Zivilgesellschaft weltweit bringt ihre Forderungen ein  

 

Die UN-Führung versprach sich vom SDG-Gipfel neue Beschlüsse und (Selbst-)Verpflichtungen zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs). Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Statt Beschlüssen gab es viele Bekräftigungen und Bekenntnisse zu den SDGs – durchgesetzt gegen Widerstände aus verschiedenen Richtungen. Der Gipfel hat außerdem gezeigt: Wie schon bei den BRICS- und G20-Gipfeln in den Wochen zuvor, der Globale Süden ist nicht länger bereit, seine Interessen nur am Rande zu diskutieren. Obwohl die Zugänge für Zivilgesellschaft beim Gipfel sehr begrenzt waren, ist es gelungen, die Stimme der Zivilgesellschaft hörbar zu machen.  

Optimistisch gesehen gibt der SDG-Gipfel die Richtung für die UN-Gipfel der kommenden Jahre vor: 2024 der Zukunftsgipfel, 2025 die vierte Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung und ebenfalls 2025 der Weltsozialgipfel bieten die Plattformen, die notwendigen Entscheidungen für strukturelle Änderung zu treffen. Pessimistisch gesehen hat die UN nicht die Kraft auf die multiplen, sich überlappenden Krisen Antworten zu finden und die SDGs bleiben schöne Worte ohne Konsequenzen.  

Umso wichtiger ist es daher, eine deutliche Stimme der Zivilgesellschaft zu haben. Da dafür innerhalb des UN-Gipfels kaum Platz war, fand parallel am 17. und 18.9. gegenüber des UN-Gebäudes die Global People’s Assembly[i] statt. Organisiert wurde sie vom Global Call to Action Against Poverty (GCAP) zusammen mit 64 Ko-Organisatoren wie Amnesty, Greenpeace, Oxfam, Brot für die Welt, dem Global Policy Forum, der Heinrich-Böll-Stiftung Washington und der Rosa-Luxemburg-Stiftung New York. Zusätzlich gab es erstmals das sogenannte SDG Action Weekend mit dem Tag der Zivilgesellschaft am 16.9. innerhalb der UN. 

Die Global People’s Assembly war der Höhepunkt eines Bottom-up-Prozesses: In 40 Ländern weltweit haben sich im Vorfeld des Gipfels Repräsentant:innen marginalisierter Gruppen in lokalen, nationalen und regionalen People’s Assemblies getroffen, um die Umsetzung der SDGs zu analysieren und Forderungen an ihre Regierungen zu formulieren, um ihnen diese mit nach New York zu geben. Dieser Prozess war Teil der globalen Aktionswoche Act4SDGs. 

Die Erklärung der Global People’s Assembly[ii] enthält vier zentrale Themen, die auf den Erklärungen der nationalen und regionalen Prozesse aufbauen:  

  1. Wirtschaftliche und finanzielle Gerechtigkeit 
  2. Klima- und Umweltgerechtigkeit
  3. Soziale Gerechtigkeit und Geschlechtergleichheit
  4. Zivilgesellschaft, Menschenrechte und UN. 

Die Erklärung wurde in den offiziellen Gipfel eingebracht. Während der Global People’s Assembly wurden die folgenden drei Punkte als zentral für die SDG-Umsetzung in den kommenden Jahren diskutiert:  

1. Die SDG-Halbzeitbilanz ist verheerend 

Die Berichte zur SDG-Halbzeit zeigen deutlich: Die SDGs werden nicht erreicht, wenn der Trend so weitergeht wie bisher. Die Abschlusserklärung des SDG-Gipfels erkennt die Probleme an, aber es gibt keinen Konsens über die Gründe für die schleppende Umsetzung. Ein wichtiger Faktor ist nach wie vor Corona. Die Erklärungen der nationalen People’s Assemblies verdeutlichen, dass noch immer viele Menschen im Globalen Süden von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Gleichzeitig wird Corona auch als Ausrede benutzt: Denn bereits vor der Pandemie hat die Zahl der hungernden Menschen zugenommen. Und bereits bei der Verabschiedung der Agenda 2030 war klar, dass es für die SDGs keine gesicherte Finanzierung gibt. 

Gegen die politische Erklärung des Gipfels gab es in den Wochen zuvor im Wesentlichen zwei Widerstände: 

  • Die USA, das Vereinigte Königreich und einige andere reiche Länder (nicht aus der EU) stellten die Formulierungen zur Entwicklungsfinanzierung in Frage – insbesondere wollten sie keine Reformen der internationalen Finanzarchitektur. 
  • Autoritäre Regierungen wie Russland, Eritrea und Nordkorea drohten, die Erklärung zu blockieren, solange darin keine Verurteilung von Sanktionen enthalten war.  

Beide Einsprüche wurden mit großer Mehrheit abgelehnt und letztlich wurde die Abschlusserklärung ohne Gegenstimmen verabschiedet. Ob das ein Erfolg ist? Die Gipfel-Erklärung enthält viel positive Worte für die SDGs. Angesichts der weltpolitischen Lage war es gut, dass die große Mehrheit sich klar für die SDGs und das damit verbundene Entwicklungsmodell ausspricht. Die Erklärung enthält die klare Botschaft an den Westen, die Dominanz der Finanzarchitektur aufzugeben und an autoritäre Staaten, dass deren Alternative nicht gewollt wird. Andererseits ist es frustrierend immer wieder Wörter wie „bekräftigen“, „erneut verpflichten“, „versprechen“ zu lesen ohne konkrete Beschlüsse, wie das umgesetzt werden soll. 

2. Die Schuldenkrise tötet die SDGs – mehr globale Gerechtigkeit nötig 

Ein wichtiger Diskussionspunkt war die Reform der internationalen Finanzarchitektur. Die Schuldenkrise zeigt, dass das derzeitige System es nicht schafft, das Problem zu lösen. 54 Länder leiden unter zu hohen Schulden. Sie haben Probleme ihre Schulden zu bedienen, sie zahlen mehr für die Schuldentilgung und kürzen deshalb häufig soziale Leistungen einschließlich Gesundheit und Bildung – mit fatalen, oft tödlichen Folgen für die Menschen. Auch Anpassungen an den Klimawandel können nicht finanziert werden. Für eine Lösung bedarf es zum einen kurzfristiger Schuldenstreichungen und zum anderen eines internationalen Staateninsolvenzsystems, das ein faires und transparentes Verfahren ermöglicht. Nicht nur in der Verschuldungskrise braucht es mehr globale Gerechtigkeit. Auch Reformen der internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), einschließlich deren Governance, sind notwendig. Ein zentral diskutiertes Thema war auch die Steuergerechtigkeit: Die Regierungen im Globalen Süden brauchen Gelder, um soziale Ausgaben und Klimaaktivitäten zu finanzieren. Derzeit bezahlen internationale Unternehmen und viele Reiche keine oder kaum Steuern in Ländern des Globalen Südens. So gehen diesen Ländern jährlich etwa 300 Mrd. $ verloren. Der Club der reichen Länder, die OECD, hat seit 2015 erfolglos versucht, dieses Problem zu lösen. Stattdessen sollte mit einer Rahmenkonvention ein globaler Kontrollmechanismus unter dem Dach der UN geschaffen werden. Dazu läuft ein Prozess in der UN-Generalversammlung, angestoßen von der Gruppe der afrikanischen Staaten.  

3. Es gibt bezahlbare Lösungen – wie soziale Sicherung für alle 

 Der Gipfel und die vorbereitenden Veranstaltungen wie die Global People’s Assembly haben deutlich gemacht: Es gibt Lösungen. Und diese sind auch bezahlbar. Die Einführung sozialer Sicherungssysteme wäre ein wirksames Instrument um zugleich SDG 1, 2 und 10 zu erreichen – die Bekämpfung von Armut, Hunger und Ungleichheit. Für den Erfolg ist es wichtig ist, dass alle Menschen ein Recht auf soziale Grundsicherung bekommen. Die Einführung eines sozialen Sicherungssystems in den ärmsten Entwicklungsländern würde insgesamt 79 Mrd. $ kosten. Das entspricht aber 15 % deren Bruttoinlandsproduktes. Das können die Länder zu Beginn nicht allein stemmen, aber im Lauf von 10 bis 15 Jahren wären sie in der Lage, die Finanzierung selbst zu tragen. Voraussetzung wäre, Pläne auf nationaler Ebene zu entwickeln, unter Einbeziehung von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Zivilgesellschaft. Um diesen Prozess zu unterstützen und zu finanzieren, bedarf es des globalen Fonds zum Aufbau der sozialen Sicherung. 

Welche Rolle kann Deutschland bei der Verwirklichung dieser Forderungen spielen? 

Die deutsche Rolle ist gemischt: Einerseits engagiert sich Deutschland stark in den UN für Multilateralismus – sowohl politisch als auch finanziell. Das zeigte sich auch an der Teilnahme von Bundeskanzler Olaf Scholz am SDG-Gipfel – sowie der drei Ministerinnen Annalena Baerbock, Steffi Lemke und Svenja Schulze. Dies ist ein gutes Zeichen. Deutschland bzw. die deutsche UN-Botschafterin ist die Co-Fazilitatorin des Zukunftsgipfels 2024 – zusammen mit Namibia. Deutschland unterstützt UN-Prozesse finanziell – von der Beteiligung der Zivilgesellschaft bis zu Initiativen für soziale Sicherung.  

Andererseits gehörte Deutschland in den letzten Jahren zu den reichen Ländern, die die notwendigen strukturellen Veränderungen blockiert haben – etwa zur Lösung der Schuldenkrise, für mehr Steuergerechtigkeit, den Gebrauch von Sonderziehungsrechten oder zur Freigabe von Patenten von Covid-Impfstoffen. Dieses Verhalten wird im Globalen Süden genau registriert. Auch die geplanten Kürzungen der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit ist ein Bruch internationaler Verpflichtungen. 

Es bleibt zu hoffen, dass der SDG-Gipfel dazu beigetragen hat, dass die deutsche Politik diese Widersprüchlichkeit erkennt. Und dass die Bundesregierung sich auf den kommenden Gipfeln für strukturelle Änderungen einsetzt. Die Global People’s Assembly machte es klar: Die SDGs können nur erreicht werden, wenn es mehr globale Gerechtigkeit gibt. 

 

Autor:

Ingo Ritz ist Direktor des Global Call to Action Against Poverty (GCAP) – eines weltweiten Netzwerkes von zivilgesellschaftlichen Koalitionen in 66 Ländern.

 

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