Fluch oder Segen?

Rundbrief 2023/1

Technologische Entwicklungen in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit

Die gegenwärtige internationale Gesundheitszusammenarbeit fokussiert sich auf den Ausbau biomedizinischer Technologien wie Impfstoffe, Arzneimittel und Diagnostika, während sie die sozio-ökologischen Determinanten der Gesundheit vernachlässigt und ihnen sogar schadet. Handelspolitische Maßnahmen führen dazu, dass Ländern des Globalen Südens Gesundheitstechnologien aufgezwungen werden, während der universelle Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten sowie die lokale Beteiligung an der Festlegung von Prioritäten für öffentliche Gesundheitsprogramme ins Hintertreffen geraten.

Die moderne Medizin und ihre Technologien sind für die menschliche Entwicklung unerlässlich. Aber sie sind nicht der einzige relevante Faktor. Überall auf der Welt zeigt sich, dass Fortschritte bei der Lebenserwartung auch mit sozialen Faktoren wie der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zusammenhängen. Obwohl medizinische Technologien wie Antibiotika, Impfstoffe und Diagnostika wichtig sind für die Krankheitsbekämpfung, muss ihr Einsatz verhältnismäßig, relevant und wirksam sein. Dieser Grundsatz ist in der Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) von Alma-Ata aus dem Jahr 1978 über die primäre Gesundheitsversorgung festgehalten: „Eine grundlegende Gesundheitsversorgung auf der Grundlage praktischer, wissenschaftlich fundierter und sozial akzeptabler Methoden und Technologien, die dem Einzelnen und den Familien in der Gemeinschaft unter deren voller Beteiligung allgemein zugänglich gemacht werden, und zwar zu Kosten, die die Gemeinschaft und das Land in jeder Phase ihrer Entwicklung im Sinne der Selbständigkeit und Selbstbestimmung tragen können.“

45 Jahre nach dieser Erklärung müssen wir feststellen, dass dieser Grundsatz in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit allzu oft verletzt wird. Darüber hinaus hat die von kommerziellen Interessen getriebene Medikalisierung von Gesundheits- und Sozialprogrammen zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheits- und Umweltproblemen geführt. Man denke hier z. B. an die derzeitige rasante Ausbreitung der antimikrobiellen Resistenz, die weltweite Epidemie der Abhängigkeit von Opioiden (Schmerzmitteln), den bei medizinischen Verfahren anfallenden Plastikmüll oder die Tatsache, dass der Gesundheitssektor in Industrieländern für 4-6 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Die Globalisierung der modernen Medizin bedeutet nicht nur, dass mehr Technologien weltweit verfügbar sind, sondern auch, dass ihre negativen Auswirkungen weiter fortgeschritten sind.

Technologie-Transfer von Nord nach Süd

Auf der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung 1983 wurde ein Entwurf für einen internationalen Verhaltenskodex für den Technologietransfer vorgelegt. Er wurde von den G77-Ländern vorangetrieben und stellte die Rechte des geistigen Eigentums der Industrieländer und ihrer (Pharma-)Unternehmen in Frage. Der Kodex wurde leider nie angenommen. Mit dem TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) von 1994 wurden hingegen Mindeststandards für den Schutz des geistigen Eigentums festgelegt. Damit wurden die geistigen Eigentumsrechte internationaler Investoren über die Entwicklungsbedürfnisse vieler Länder gestellt.

Warum ist dies aus der Perspektive von Gesundheit und Entwicklung von Bedeutung? Jedes Land erstellt eine Liste unentbehrlicher Arzneimittel für sein öffentliches Gesundheitssystem, die sich an einer von der WHO herausgegebenen Liste orientiert. Die dort aufgezählten Medikamente sollten für jeden Menschen auf der Welt zu einem angemessenen Preis verfügbar sein. Es gibt jedoch bislang keinen Vertrag der dies sicherstellt. Der Vorschlag, einen globalen Vertrag über Forschung und Entwicklung medizinischer Technologien auszuarbeiten, der das regeln könnte, wurde von den USA, den EU-Staaten und einigen anderen abgelehnt. Dies bedeutet, dass in Ländern auf der ganzen Welt einige lebenswichtige Arzneimittel nur gegen einen hohen Preis erhältlich sind, da das Patentrecht beim Pharmaunternehmen liegt. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Bedaquilin, einem Medikament zur Behandlung von multiresistenter Tuberkulose, das 900 US-Dollar pro Behandlung kostet oder bei Sofosbuvir, einem Medikament das gegen chronische Hepatitis C eingesetzt wird und etwa 500 Dollar kostet.

Universal Health Coverage und Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung

Universal Health Coverage (allgemeine Gesundheitsabsicherung, UHC) ist ein wichtiges Ziel der Agenda 2030. UHC bedeutet, dass alle Menschen Zugang zu qualitativ hochwertigen und bezahlbaren Gesundheitsdiensten haben. In vielen Ländern sehen wir jedoch, dass Menschen zwar Anspruch auf eine kostenlose medizinische Grundversorgung haben, diese aber häufig von geringer Qualität ist. Da viele Länder zumindest bei einem Teil ihrer Liste der unentbehrlichen Medikamente auf die Bereitstellung von patentierten Medikamenten angewiesen sind, müssen wichtige Arzneimittel von Patient:innen häufig selbst bezahlt werden. Viele Länder tun sich schwer mit der Frage, welche Medikamente sie in ihre Liste aufnehmen sollen. Durch die Lobbyarbeit der Pharmaunternehmen entscheiden sie sich häufig für die Finanzierung von Medizintechnik, die nicht nur teuer ist, sondern häufig auch nicht den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung entspricht. Es besteht ein kommerzieller Druck, neue Impfstoffe, Medikamente und Diagnostika in die Liste aufzunehmen, ohne dass nachgewiesen ist, welchen Beitrag sie langfristig zur Gesundheit der Bevölkerung leisten.

Noch problematischer ist, dass die internationale Zusammenarbeit in manchen Fällen die Entwicklung nationaler Gesundheitssysteme eher behindert als fördert. Betrachten wir ein Beispiel: Die deutsche und ruandische Regierung haben als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie den Bau von mRNA-Produktionsanlagen von BionTech, den so genannten „BioNtainer“, in Ruanda gefördert. Diese sollen nicht nur Covid-19-Impfstoffe herstellen, sondern könnten in Zukunft auch für die Weiterentwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen gegen Malaria und Tuberkulose genutzt werden. Fraglich ist, wer dann die Preise für diese Impfstoffe festlegt und wer die Gewinne erhalten wird. Unter den gegenwärtigen Regelungen zum geistigen Eigentum wären das die westlichen Investoren.

Darüber hinaus müssen wir uns fragen: Entspricht die Entwicklung solcher Impfstoffe überhaupt den Gesundheitsbedürfnissen der lokalen Bevölkerung? Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Bei der Einführung des Covid-19-Impfstoffs haben wir jedoch gesehen, dass in vielen Ländern die großen Baustellen des Gesundheitssystems bei den Kapazitäten des Gesundheitspersonals, einer stabile Versorgungskette mit wichtigen Arzneimitteln und der generellen Finanzierung liegen. Wäre es daher sinnvoll, die Gesundheitssysteme mit einer weiteren auf die Bekämpfung einer einzigen Krankheit ausgerichteten Impfkampagne zu überlasten? Sollte sich die internationale Zusammenarbeit nicht weniger auf die Entwicklung neuer Technologien konzentrieren, sondern vielmehr auf die Stärkung der grundlegenden Kapazitäten im Bereich der öffentlichen Gesundheit, einschließlich der Verbesserung der sozio-ökologischen Determinanten, wie z. B. der Sicherung der Grundernährung, sowie des Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen?

Unterschiedliche europäische und afrikanische Gesundheitsstrategien

Die afrikanische und europäische Gesundheitsstrategie unterscheidet sich. Während für die Afrikanische Union die Förderung des öffentlichen Sektor von zentraler Bedeutung ist, konzentriert sich die EU  auf den Privatsektor, da dieser angesichts des demografischen Wandels, der gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels, des Verlusts der biologischen Vielfalt und der Ernährungsunsicherheit ein wichtiger Investitionsbereich darstellt. Anstatt sich auf die Prävention der zuvor genannten Risiken zu konzentrieren, wie z. B. die rasche Verringerung der Treibhausgasemissionen oder die Förderung der Umstellung auf eine pflanzliche Ernährung, treibt die EU Partnerschaften voran, die sich auf die Krankheitsbekämpfung konzentrieren. Die Partnerschaft zwischen der EU und den Entwicklungsländern im Bereich klinischer Studien (The European and Developing Countries Clinical Trials Partnership, EDCTP) beispielsweise soll die Entwicklung neuer oder verbesserter Gesundheitstechnologien für armutsbedingte Krankheiten beschleunigen. Auch hier stellt sich die Frage, wer letztendlich die Rechte am geistigen Eigentum der im Rahmen dieser Partnerschaft entwickelten und erzeugten medizinischen Produkte besitzt und wer die Verfügbarkeit in den Ländern regelt. Zynisch könnte man argumentieren, dass diese öffentliche Finanzierung von Europäischen und Afrikanischen Staaten den privaten Sektor, indirekt subventioniert. Hierdurch werden armutsbedingte Krankheiten in Entwicklungsländern zur Ware und dies ist im Wesentlichen eine koloniale Denkweise.

Durch die Covid-19-Pandemie wurden in vielen Ländern Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeine Gesundheitsversorgung eingeleitet. Die derzeitige Herausforderung besteht darin, dass Investitionen in die biomedizinische Forschung und Entwicklung von Technologien dringend wieder am globalen öffentlichen Interesse ausgerichtet werden müssen, anstatt an privaten Profiten. Wichtig ist hierbei die Orientierung an lokalen Bedürfnissen, d.h. die Beteiligung der Regierungen und Bürger:innen an der Festlegung der Prioritäten internationaler Gesundheitsprogramme.

Dr. Remco van de Pas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Planetary Health Policy (CPHP). Das CPHP wurde 2021 von der deutschen Allianz für Klimawandel und Gesundheit (KLUG) gegründet, um proaktiv wissenschaftliche Politikberatung an der Schnittstelle von globalem Umweltwandel und Gesundheit zu fördern

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