Handel als Instrument für oder Waffe gegen nachhaltige Entwicklung?
Der internationale Handel ist in den Nachrichten so präsent wie nie zuvor. Die Zollankündigungen der derzeitigen US-Regierung haben die Bemühungen der Welthandelsorganisation (WTO) um die Festlegung von allgemeingültigen Regeln anscheinend zunichte gemacht. Die WTO wurde 1995 unter dem Vorwand gegründet, einheitliche multilaterale Regeln für ein harmonisiertes Funktionieren des globalen Handelssystems zu schaffen und durchzusetzen. Durch den Grundsatz „Ein Land – eine Stimme“ und die Meistbegünstigtenregel wird allen Mitgliedern der gleiche Status eingeräumt. Während der erstgenannte Grundsatz in der globalen Machtdynamik seit Langem an Bedeutung verloren hat, wurde die Meistbegünstigung, die allen Mitgliedern die gleiche Behandlung in Form von Zöllen und anderen Leistungen gewährt, durch die aktuellen US-Zölle praktisch zerstört.
Obwohl die WTO eine Erfindung der Industrieländer ist, insbesondere der USA und der EU, bestand eines der wichtigsten Versprechen an die Entwicklungsländer und die am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries, LDCs) darin, wichtige politische Instrumente für ihre Entwicklung bereitzustellen und ihnen zu helfen, ihren ökonomischen Rückstand aufzuholen. In den 30 Jahren ihres Bestehens wurden diese Versprechen jedoch bei Weitem nicht eingelöst. Trotz des zugrundeliegenden Prinzips der Sonder- und Vorzugsbehandlung (Special and Differential Treatment, SDT), das Entwicklungsländern und LDCs zumindest im Prinzip eine gewisse Flexibilität bei der Umsetzung der Verpflichtungen einräumt, und der vermeintlich strengen Disziplinen für die Industrieländer sind die sog. Bemühungen um mehr Gerechtigkeit durch Handelsregeln hoffnungslos gescheitert.
Das Nord-Süd-Gefälle in der aktuellen Handelspolitik
In einigen Entwicklungsländern, vor allem in Asien, hat die Handelspolitik eindeutig zu Wachstum und Entwicklung beigetragen, insbesondere in China. Die meisten Entwicklungsländer und LDCs sehen sich jedoch nach wie vor mit den durch die WTO-Abkommen auferlegten Handelsregeln konfrontiert und können Handel nicht als Instrument für Entwicklung nutzen. Sehr ungerechte Regeln in den Abkommen über Landwirtschaft, Industrieprodukte, Dienstleistungen und geistiges Eigentum haben die Ungleichheiten zwischen Globalem Norden und Globalem Süden verschärft und Letzteren daran gehindert, eine nachhaltige Entwicklungspolitik zu verfolgen. Der dringend benötigte Strukturwandel, vor allem in Afrika, blieb aus, während die Abhängigkeit von Rohstoffexporten anhielt.
Diese Trends wurden durch die bilateralen und zunehmend auch regionalen Handelsabkommen, die allgemein als Freihandelsabkommen (Free Trade Agreements, FTA) bezeichnet werden, noch verschärft. Die derzeit 374 FTA gehen weit über den Geltungsbereich der WTO hinaus. Neben einer intensiveren Liberalisierung in bestehenden fallen auch neue Bereiche in ihren Geltungsbereich wie die Liberalisierung der öffentlichen Beschaffungsmärkte, die digitale Wirtschaft und der elektronische Handel, Nachhaltigkeit, Energie und Rohstoffe. Zusätzlich zu den Handelsabkommen beinhalten bilaterale Investitionsabkommen (Bilateral Investment Treaties, BITS) und Investitionskapitel in FTA große Zugeständnisse an multinationale Unternehmen und stellen die Regierungen der Entwicklungsländer vor große Herausforderungen bei der Politikgestaltung.
Die WTO und mehr: globale Institutionen und Prozesse
Die Rolle anderer globaler Institutionen und Prozesse bei der Gestaltung der Handelspolitik als Instrument für Entwicklung war eher begrenzt. Die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD, mittlerweile in UN Trade and Development umbenannt), hatte den Auftrag, Entwicklungsländer mit Forschung und technischer Unterstützung bei Verhandlungen und Folgenabschätzungen zu unterstützen. Ihr Mandat wurde seit ihrer Gründung immer weiter geschwächt.
Der Financing for Development-Prozess (FfD) wurde 2002 in Monterrey mit dem Mandat ins Leben gerufen, die wichtigsten politischen Bereiche für die Bereitstellung der notwendigen finanziellen und nicht-finanziellen Mittel zur Unterstützung der Entwicklungsbemühungen der Entwicklungsländer und LDCs zu erörtern. Einer der unter FfD behandelten Themenbereiche ist der Handel. Da die Handelspolitik jedoch einflussreichere Institutionen wie die WTO hat, wurde sie im FfD-Prozess bisher eher vernachlässigt. Mit der für Ende Juni 2025 in Sevilla anberaumten vierten FfD-Konferenz (FfD4) scheint es jedoch einen Hoffnungsschimmer für eine stärkere Berücksichtigung der Handelspolitik zu geben, die derzeit einige der wichtigsten Anliegen der Entwicklungsländer und der LDCs widerspiegelt.
Handelspolitischer Spielraum für nachhaltige Entwicklung
Mit der Zeit ist der politische Spielraum für nachhaltige Entwicklung als Bestandteil der Handelspolitik geschrumpft. Entwicklungsländer und LDCs weisen schon seit geraumer Zeit darauf hin, dass sie in verschiedenen Bereichen dringend politischen Handlungsspielraum benötigen: für Industrialisierung und Strukturwandel, vor allem in Afrika, für die Gewährleistung von Nahrungsmittelsicherheit und Gesundheit, für die Entwicklung und das Wachstum der Landwirtschaft, für die Sicherstellung wichtiger öffentlicher Dienstleistungen, für die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und die Sicherung des Lebensunterhalts, für den Schutz natürlicher Ressourcen und Rohstoffe sowie für die Regulierung der immer weiter expandierenden multinationalen Unternehmen. Es ist klar, dass sich die Gestaltung der Handels- und Investitionspolitik von der Notwendigkeit, freie Märkte durch uneingeschränkte Liberalisierung zu gewährleisten, auf die Erweiterung und Sicherung des politischen Spielraums für die Entwicklung in den Ländern des Globalen Südens verlagern muss. Das ist bisher nicht gelungen. Es gibt viele Bereiche, die Aufmerksamkeit erfordern:
Ein historisch wichtiges Thema, das gerade jetzt für Schlagzeilen sorgt, sind Zölle. Die Marktliberalisierung durch Zollsenkungen ist ein wichtiges Ziel sowohl der WTO als auch der Freihandelsabkommen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass sich die Industrieländer im Rahmen der Verhandlungen der Uruguay-Runde, aus denen die WTO hervorging, zu einer erheblichen Senkung der Zölle bereit erklärt hatten, während Entwicklungsländer höhere (Höchst-)Zölle als Instrument für ihre Entwicklung beibehalten durften. Sie bezahlten dafür, indem sie in den Bereichen Dienstleistungen, Industriehandel und geistiges Eigentum erhebliche Zugeständnisse machten, was sich für sie als kostspielig erwies. Sie werden weiterhin im Rahmen der WTO und noch stärker durch die Freihandelsabkommen zur Öffnung ihrer Märkte gedrängt. Doch nun lässt die amerikanische Haltung zu Zöllen diese Geschichte und dieses Gleichgewicht völlig außer Acht und setzt Zölle in einem fieberhaften Ausmaß als Waffe ein.
Im Gegenzug für niedrige Zölle konnten die Industrieländer stärkere Schutzmaßnahmen beibehalten, nämlich Subventionen und Normen. Die massiven Agrarsubventionen in den Industrieländern hatten Landwirte in den Entwicklungsländern seit der Vor-WTO-Ära unter Druck gesetzt. Doch, anstatt das Problem zu lösen, gestatteten die ungerechten WTO-Regeln den Industrieländern zusätzliche feste Subventionsansprüche, während sie die Subventionen der Entwicklungsländer begrenzte, was deren politischen Spielraum für das Wachstum ihres Agrarsektors einschränkte. Darüber hinaus haben hohe nichttarifäre Maßnahmen wie Quoten und Lebensmittel- und Medizinstandards auf den Märkten der Industrieländer die Exportmöglichkeiten vieler Entwicklungsländer blockiert. Ähnliche Probleme gibt es bei Industrieprodukten, die die Produzenten in den Entwicklungsländern und LDCs oft auf das untere Ende der globalen Wertschöpfungsketten beschränkt haben.
Die Unfähigkeit, in der Wertschöpfungskette aufzusteigen, wird auch durch die Kontrolle über Technologie gewährleistet. Dies ist ein weiterer Bereich der Ungleichheit und der Hindernisse, der auf die strengen Regeln für geistiges Eigentum zurückzuführen ist, die durch das Abkommen der WTO über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS) propagiert und in den Freihandelsabkommen über diese Verpflichtungen hinaus ausgedehnt wurden. Diese Regeln für geistiges Eigentum haben die Regierungen der Entwicklungsländer gezwungen, Monopole für neue Technologien und Produkte zu gewähren, die sich in den Händen von multinationalen Konzernen mit Sitz im Globalen Norden konzentrieren, wofür China eine seltene Ausnahme darstellt. Das schädlichste dieser Instrumente sind Patente, vor allem im Bereich der medizinischen Technologien wie Medikamente, Impfstoffe und Diagnostika. Dies hat zu einem massiven Anstieg der Preise für solche Produkte geführt. Der fehlende Zugang zu COVID-19-Impfstoffen ist nach wie vor die eklatanteste Auswirkung solcher Regeln in jüngster Zeit. Der Schutz geistigen Eigentums bedroht auch nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken, indem er den Zugang zu Saatgut und Pflanzensorten kontrolliert, die biologische Vielfalt beeinträchtigt und Biopiraterie erleichtert.
Die digitale Wirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten im Handelsdiskurs zunehmend an Bedeutung gewonnen. E-Commerce-Kapitel und -Abkommen werden sowohl in der WTO (als plurilaterales Abkommen zwischen einigen Mitgliedern) als auch in den Freihandelsabkommen vor allem von Industrieländern wie den USA und der EU gefördert, der Heimat globaler digitaler Konzerne. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die nationale Entwicklung und Gestaltung der digitalen Wirtschaft und insbesondere auf die Politik der digitalen Industrialisierung in den Entwicklungsländern. Insbesondere die Forderung nach der Abschaffung von Zöllen auf die elektronische Übertragung von digitalen Waren und Dienstleistungen und nach freiem Datenverkehr bedeutet für Entwicklungsländer nicht nur Einnahmeverluste, sondern auch den Verlust des Eigentums und der Kontrolle über die eigenen Daten, die ein entscheidender Rohstoff für die nächste industrielle Revolution sind.
Die Öffnung der Märkte für ausländische Direktinvestitionen wird als die größte Chance für Entwicklungsländer und LDCs angepriesen. Es ist jedoch erwiesen, dass ausländische Direktinvestitionen nur dann zur Entwicklung beitragen können, wenn sie so konzipiert und konditioniert sind, dass sie inländischen Entwicklungszielen dienen. Weltweit gibt es 2.847 BITS und 485 FTAs[i], von denen die meisten eine Klausel namens Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS) enthalten. Diese Klausel ermöglicht es ausländischen Investoren, nationale Regierungen in geheimen internationalen Schiedsverfahren auf hohe Summen zu verklagen, wenn sie glauben, dass ihre erwarteten Gewinne durch eine Änderung der Regierungspolitik geschmälert werden. Bislang wurden weltweit 1.401 solcher ISDS-Verfahren über Milliarden von Dollar eingeleitet.[ii] Diese Fälle haben nachhaltige Entwicklung blockiert, einschließlich Umwelt- und Klimamaßnahmen, Finanzregulierung, Maßnahmen im Zusammenhang mit öffentlicher Gesundheit und natürlichen Ressourcen, Rechte von Arbeitnehmern und indigenen Gemeinschaften und vieles mehr. Fast alle Entwicklungsländer und die meisten Industrieländer haben solche Fälle verloren, aber die Einnahmeverluste und die politische Abkühlung waren für Erstere unerschwinglich.
Schließlich sind Klima und Nachhaltigkeit ein neues Thema in der WTO und den Freihandelsabkommen. Während Nachhaltigkeit in ihren drei Dimensionen, d. h. wirtschaftlich, sozial und ökologisch, ein verbindliches Ziel für alle Länder bleibt, besteht die Gefahr, dass sie zu einem Machtinstrument in Handelsabkommen wird. Die Auferlegung von Nachhaltigkeitsstandards benachteiligt die Produzenten in Entwicklungsländern, die sich um eine Umstellung auf umweltfreundlichere Prozesse bemühen. Die einseitigen umweltbezogenen Handelsmaßnahmen der EU, z. B. der Kohlenstoffgrenzausgleich (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) und die Entwaldungsrichtlinie, erheben eine Grenzsteuer auf Exporte aus Entwicklungsländern. Interessanterweise gehen diese Maßnahmen nicht auf inhaltliche Fragen ein, z.B. ISDS, die zu einem Raubbau an natürlichen Ressourcen geführt haben, was sich jetzt deutlich im Kampf um kritische Mineralien zeigt. Sie schränken auch nicht die Regeln für geistige Eigentumsrechte ein, die den Zugang zu Saatgut blockieren und biologische Vielfalt beeinträchtigen. Derartige Maßnahmen bieten keinen Finanz- und Technologietransfer. Bei diesen Maßnahmen scheint es eher darum zu gehen, die Marktkontrolle über Produkte und Dienstleistungen des Gastlandes zu erlangen. Entwicklungsländer haben gefordert, dass die Diskussionen über Nachhaltigkeit und Handel multilateral geführt werden müssen, die historische Verantwortung der Industrieländer anerkennen und nicht zu Waffen werden dürfen, um den Ländern des Globalen Südens kommerzielle Nachteile zu verschaffen und sie von ihrem Entwicklungsweg abzuschneiden.
Wo stehen wir in dem derzeitigen Chaos?
Angesichts der seit Langem bestehenden Ungerechtigkeit im globalen Handels- und Investitionssystem steht die Handelspolitik vor einem Paradigmenwechsel. Kann nun ein gerechterer und ausgewogenerer Weg eingeschlagen werden und Handel zum Instrument für nachhaltige Entwicklung werden oder wird die historische Ungerechtigkeit einen neuen Höhepunkt erreichen? Wird die Welt nun Machtkonfigurationen erleben, die das Nord-Süd-Gefälle überwinden, oder wird sich die Spaltung sogar noch verstärken, wenn sich die Entwicklungsländer zu einem neuen Bündnis des Südens zusammenschließen?
In dieser Situation kommt der bevorstehenden FfD4-Konferenz und der 14..WTO-Ministerkonferenz, die für 2026 geplant ist, große Bedeutung zu. Einige Themen wie ISDS-Reform, unilaterale Handelsmaßnahmen (einschließlich Zölle) und politischer Handlungsspielraum werden aktuell bei FfD4-Konferenz erörtert, jedoch nicht ehrgeizig genug. Bei der WTO-Ministerkonferenz werden kritische Fragen im Zusammenhang mit Landwirtschaft, WTO-Reform, Streitbeilegung und plurilateralen Abkommen auf der Agenda stehen. Die Rolle und die Fähigkeit von UNCTAD, Entwicklungsländer beim Einsatz von handels- und investitionspolitischen Maßnahmen zu unterstützen, wird auch auf der bevorstehenden vierjährlichen Sitzung der UNCTAD im Oktober 2025 in Vietnam auf dem Prüfstand stehen.
Dies sind Lackmustests nicht nur für Entwicklungsländer und LDCs, sondern auch für globale Institutionen und Prozesse; es bleibt abzuwarten, ob sie die Bürger des Globalen Südens unterstützen oder im Stich lassen werden.
Ranja Sengupta
Die Autorin ist Senior Researcher bei Third World Network und Koordinatorin dessen Handelsprogramms.
- [i] UNCTAD (2025): International Investment Agreements Navigator. Genf.
https://investmentpolicy.unctad.org/international-investment-agreements - [ii] UNCTAD (2025): Investment Dispute Settlement Navigator. Genf.
https://investmentpolicy.unctad.org/investment-dispute-settlement