Die verschobene Inflation

Rundbrief 2025/2

Wie die Inflation den Globalen Süden trifft

Die Leitzinspolitik der Zentralbanken im Globalen Norden verschiebt die Inflation in den Globalen Süden. Durch Wechselkurs- und Inflationsdruck werten die Währungen des Südens gegenüber dem Norden ab. Das verschärft die Abhängigkeit von Rohstoffexporten und die Armut der unteren Klassen im Süden.

Es wirkt, als hätten die Leitzinserhöhungen von Europäischer Zentralbank und Federal Reserve ihren Dienst getan. Die Inflationsraten sind in Nordamerika und Europa wieder nah an den angestrebten Zielmarken von 2 %. Im Februar 2025 lagen sie in Deutschland bei 2,3 %, in den USA bei 2,8 %.

Doch ist das wirklich das Resultat der Leitzinspolitik? Fragt man den ökonomischen Mainstream, lautet die Antwort: Ja. Große Teile der politischen Arena teilen diese Interpretation. Die Zinserhöhungen der EZB ab 2022 seien ein Signal, dass Frankfurt entschlossen die Inflation bekämpfe, sagte Finanzminister a.D. Christian Lindner. Auch Friedrich Merz unterstützte die Erhöhung der Leitzinsen. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die Dämpfung der Kreditvergabe durch das Privatbankensystem (der Effekt, auf den die EZB mit erhöhten Leitzinsen abzielt) die Inflation bekämpft hat. Zur Erinnerung: Die Inflation entsprang einer angebotsseitig ausgelösten Geldentwertung nach der Corona-Pandemie. Die EZB kann rein logisch durch Leitzinspolitik keinen direkten Einfluss auf die gestiegenen Nahrungsmittel- oder Gaspreise ausüben. Was die Erhöhung des Leitzinses bewirkt, ist die Dämpfung der Gesamtnachfrage. Diese trägt in Verbindung mit wegbrechenden Exportmärkten zur aktuellen Rezession und realen Wachstumsraten von null % bei.

Geldentwertung im Süden

Neben diesem Effekt gibt es einen zweiten Weg, über den die Leitzinserhöhungen die Inflation in den kapitalistischen Zentren dämpfen. Der ist jedoch kaum bekannt. Er verläuft über die Geldentwertung in die Peripherien, also den Globalen Süden und die wirtschaftlich abhängigen Staaten im Globalen Norden. Die Auslagerung von Wechselkurs- und Inflationsdruck hält die Preise für die Importe von Rohstoffen in die kapitalistischen Zentren niedrig und dämpft so die hiesige Geldentwertung.

Zwei Mechanismen sind dafür entscheidend. Zum Ersten haben die Leitzinserhöhungen der US-amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve (Fed), sowie der Europäischen Zentralbank den US-Dollar und den Euro gegenüber den Währungen der Peripherien aufgewertet. Seit Januar 2020 ist der Wert der Währungen in der Peripherie gegenüber dem US-Dollar im Durchschnitt um 12 % gesunken. Nur in wenigen peripheren Staaten hat die Geldentwertung relativ zum Dollar kaum durchgeschlagen. Das sind etwa Costa Rica (-8 %), Uganda (1 %) oder Vietnam (5 %). Dafür fällt die Entwertung der Währung in vielen Staaten heftig ins Gewicht, etwa in Haiti (43 %), Sri Lanka (66 %), oder Angola (87 %). Angeführt wird die Liste von Ghana (173 %), der Türkei (476 %) und Argentinien (1475 %). Die Gründe für die Entwertungen sind komplex und vielfach spielen lokale Dynamiken eine gewichtige Rolle. Aber die grundsätzliche Entwicklung zeigt: Es handelt sich um ein globales, strukturelles Phänomen. Gegen die Abwertungen der Wechselkurse versuchen die Zentralbanken in den Peripherien mit Devisenoperationen vorzugehen, doch die dafür vorhandenen Ressourcen variieren ebenso wie ihre Erfolge.

Die durch Fed und EZB ausgelösten Währungsabwertungen haben weitreichende Konsequenzen, vor allem für die Handelsposition. Wenn etwa die Währung Sri Lankas, gegenüber dem US-Dollar abgewertet wird, erhöhen sich zunächst die relativen Exporterlöse. Ein Großteil der Exporte der Peripherien sind Rohstoffe, deren Preise nicht von den Produzierenden, sondern dem Weltmarkt gesetzt werden. Viele der dazu benötigten Produktionsmittel wie Gerätschaften, Maschinen, Saatgut etc. werden im Gegensatz dazu in den kapitalistischen Zentren hergestellt. Die Preise werden in der Tendenz von Monopolen und Oligopolen aufgrund ihrer Verhandlungsmacht gesetzt. Aufgrund der Abwertungen der Währungen der Peripherien und den höchst ungleich verteilten Möglichkeiten, Preise zu setzen, steigen die Kosten der für die Produktion benötigten Importe in den Peripherien wesentlich stärker als die ebenfalls leicht gestiegenen Exporterlöse. So entsteht insgesamt eine wesentlich verschlechterte Handelsposition für die Exportbranchen der Peripherien, die ihre Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten verschlechtert. Dass diese Effekte so ausgeprägt sind, liegt daran, dass knapp 40 % des internationalen Handels, vor allem wichtige Rohstoffe, in US-Dollar notiert sind und nicht in lokaler Währung abgewickelt werden.

Exportabhängigkeit und Handelsbedingungen

Wenn die Exportbranchen in exportabhängigen Staaten wie Sri Lanka – zu denen 85 Staaten des Globalen Südens zählen – aufgrund verschlechterter Handelsbedingungen netto wesentlich weniger Einnahmen erzielen, belastet das mittelfristig die gesamte Wirtschaft. Viele Produzenten können nicht mehr profitabler operieren, was zu Schließungen und Insolvenzen führt. Diese Welle überträgt sich auf die Gesamtnachfrage und durch wegbrechende Steuereinnahmen auf den Staatshaushalt. Um schwindende Einnahmen zu kompensieren, sind die Exportbranchen der Peripherien gezwungen, Exporte zu erhöhen. Das ist zwar für Unternehmen und Produzenten wichtig, um Profit zu erzielen. So steigt aber das Gesamtangebot auf dem Weltmarkt, was wiederum die Preise senkt und letztlich die Einnahmen drückt. Diese Dynamiken erleben wir derzeit etwa bei Kupfer, Palmöl und zahlreichen Seltenen Erden. An dieser Stelle kommen die kapitalistischen Zentren ins Spiel. Denn die verarbeitenden Industrien der Zentren benötigen günstigen Zugang zu diesen Gütern, um profitabel operieren zu können.

Der Kapitalismus ist auf diesen hier beschriebenen Effekt der künstlichen Abwertung von Rohstoffpreisen angewiesen, wie auch die indische Ökonomin Utsa Patnaik und der indische Ökonom Prabhat Patnaik in einer Arbeit darlegen. Denn bei sinkenden Profitraten und gleichzeitig steigenden Angebotspreisen droht sonst Geldentwertung bei zeitgleicher Rezession. Die Möglichkeit der Kapitalakkumulation wäre bedroht. Daher ist „es ist für den Kapitalismus notwendig […] sicherzustellen, dass der Schatten der steigenden Angebotspreise nicht auf die Ökonomie hereinbricht“[i]. Dafür müssen die Peripherien in einer abhängigen Position gehalten werden. Ein Mechanismus dafür liegt in der Organisation der Produktionsketten, dem globalen Währungssystem, und der darüber organisierten „Abwertung der Wechselkurse der Währungen der tropischen Regionen gegenüber den Währungen der Zentren“.

Viele Ökonomien der Peripherie sind auf den Export derartiger Güter ausgerichtet – das ist vielfach ein Erbe des Kolonialismus.[ii] Zusätzlich zu dieser Exportabhängigkeit impliziert diese ökonomische Struktur auch die Abhängigkeit von Importen. Statt für den eigenen Bedarf zu produzieren, sind sie auf den Import grundlegender Waren wie Weizen oder Treibstoff angewiesen. Durch die Abwertung der Währungen der Peripherien steigen – wie oben erwähnt – die Importpreise. Das gilt nicht nur für Produktionsmittel, sondern auch grundlegende Waren. Das führt dazu, dass die Nahrungsmittelinflation in den Peripherien derzeit im Durchschnitt bei 30 % liegt. Die Lebenshaltungskosten explodieren, vor allem für die unteren Klassen. Und auch gesamtwirtschaftlich steigen durch die gestiegenen Importpreise die Inflationsraten drastisch. Im Durchschnitt lagen diese in den sogenannten Niedriglohnländern 2023 bei 9,5 %, während sie in den Zentren nur noch bei knappen 5,5 % lagen. Dabei wirkt sich der aktuell niedrige Wert des Renminbis – der Währung Chinas – sogar noch dämpfend auf die Inflation in den Peripherien aus.

Inflation und Geldpolitik im Süden

Neben diesen unmittelbaren Effekten haben hohe Geldentwertungsraten in den Peripherien noch einen weiteren Effekt: Langfristig verschlechtern sich Wechselkurse von Staaten mit hohen Inflationsraten gegenüber denen mit niedrigen. Um diesen doppelten Effekten durch Wechselkurs und Inflation zu begegnen, greifen die Zentralbanken in den Peripherien auf eine Mischung aus den bereits genannten Devisentransaktionen sowie erhöhten Leitzinsen zurück. Die Erhöhungen der Leitzinsen senkt – wie in den Zentren – die Kreditvergabe der Privatwirtschaft, drosselt somit die Produktion und beschränkt die Nachfrage, wodurch rezessive Tendenzen verstärkt werden. Diesen Tendenzen durch aktive Fiskalpolitik und erhöhten Sozialausgaben etwas entgegenzusetzen, ist für viele Regierungen eine enorme Herausforderung – egal wie sinnvoll und richtig ihnen eine solche Politik auch erscheinen mag. Denn viele Staatshaushalte der Peripherien sind durch sinkende Steuereinnahmen und steigende Schuldenkosten bereits doppelt belastet. Aufgrund der Abwertungen der Währungen der Peripherie steigen nämlich die Zinskosten auf Staatsschulden, denn knapp 78 % der externen Schulden des Globalen Südens sind in US-Dollar notiert. Von 2020 bis 2023 sind die Zinszahlungen der Staaten des Globalen Südens deswegen um 36 % gestiegen und beliefen sich 2023 auf insgesamt 193 Milliarden US-Dollar.

Genau diese Effekte drücken die Inflation in den Zentren: Durch die Abwertung der Währungen der Peripherien sinken die Importkosten der Zentren. Durch die Externalisierung der Geldentwertung wirkt die Leitzinspolitik der Zentren letzten Endes also tatsächlich dämpfend auf die Inflation. Die Kosten für diesen geldpolitischen Erfolg tragen die unteren Klassen der Peripherien.

 

Dieser Text wurde zuerst im Surplus-Magazin veröffentlicht und basiert auf einem gemeinsamen Forschungsvorhaben von Robin Jaspert und Kai Koddenbrock.
https://www.surplusmagazin.de/globaler-sueden-inflation-importe/

Robin Jaspert

Der Autor ist Politökonom und promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er forscht zu Staatsfinanzen, Süd-Nord-Beziehungen, Fiskal- und Geldpolitik.

[i] Patnaik, Utsa; Patnaik, Prabhat (2021): Capital and Imperialism. Theory, History and the Present. New York, S. 75.
https://nyupress.org/9781583678909/capital-and-imperialism/

[ii] Weber, Isabella (2025): Kolonialer Handel prägt Volkswirtschaften bis heute. Berlin.
https://www.surplusmagazin.de/kolonialer-handel-isabella-weber/