Ausbeuterische Arbeitsbedingungen für unsere Kleidung: ein Blick auf die Näher:innen

Rundbrief 2025/1

Ein Interview mit Dr. Gisela Burckhardt von FEMNET e.V.

Damit wir unsere Kleidung so günstig kaufen können, muss sie auch günstig produziert werden. Deshalb greifen viele Firmen auf Produktionsstätten und Zulieferer aus anderen Ländern wie China, Bangladesch, Vietnam, Türkei und Indien zurück. Die Arbeiter:innen nähen unsere Kleidung unter menschenunwürdigen Bedingungen, mit gesundheitlichen Risiken, geschlechtsspezifischer Gewalt und Ausbeutung. Internationale Unternehmen tragen dabei große Verantwortung, aber die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist eine Herausforderung.

In welchen Ländern befinden sich die größten Nähzentren für Kleidung, die wir in Deutschland kaufen?

Die meisten Kleidungsstücke werden in China hergestellt. Sie sind zwar nicht mehr die billigsten, aber sie können dort sehr viel produzieren und die Qualität ist gut. Das nächstwichtige Produktionsland ist Bangladesch, Vietnam scheint aufzuholen. Außerdem sind die Türkei und Indien wichtig.

Welche Arbeitsbedingungen, Herausforderungen und Missstände auch in Bezug auf gesundheitliche Risiken und deren langfristigen Folgen herrschen in der Textilindustrie in diesen Ländern? Gibt es auch regionale Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen?

Die Löhne sind das größte Problem. Manchmal werden nicht einmal die staatlichen Mindestlöhne gezahlt, welche um das Dreifache erhöht werden müssten, um ein existenzsicherndes Einkommen zu sein – von dem Mindestlohn allein kann niemand überleben. Deshalb machen Frauen, die in der Textil- oder Bekleidungsindustrie beschäftigt sind, viele Überstunden, die doppelt vergütet werden. Das ist in ihrem Interesse, obwohl sonst Überstunden nicht in ihrem Interesse sind. Niedriglöhne sind überall gleich und zu wenig.

Ein weiteres Problem ist geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz. Es gibt sehr viel Belästigung bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Wir wissen von Fällen, wo Frauen sich zum Teil auch selbst erhängt haben, weil sie vergewaltigt worden sind und deswegen keinen Sinn mehr in ihrem Leben sahen. Frauen werden gestoßen, geschlagen und beschimpft, speziell in Bangladesch und Indien. In China gibt es weniger geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz als in Bangladesch oder Indien. Umweltmäßig haben wir enorme Auswirkungen. In der Umgebung der Fabriken kommt es zu Problemen mit dem Wasser, welches von den Fabriken oft rechtswidrig nicht gefiltert wird und in verschiedenen Farben in die Kanäle kommt. In der Regenzeit kommt es zu Überschwemmungen, bei denen Plastik und Abwasser aus den Kanälen treten und die Straßen überfluten.

Die Arbeiter:innen atmen Chemikalien ein, die in den Kleidern sind, was zu Husten führt. Außerdem ist die Blutkrankheit Anämie ein verbreitetes Problem, denn die Arbeiter:innen können sich gesunde Ernährung nicht leisten. Die Beschäftigten haben auch gesundheitliche Probleme, weil sie zum Beispiel bei der Arbeit lange Zeit auf einem nicht ergonomischen Stuhl sitzen und große Schmerzen haben. Sie nehmen Tabletten und haben keine Ahnung von den Nebenwirkungen. Wir haben auch schon Fälle gehabt von Frauen die, weil sie ihre Menstruation hatten, Pillen nehmen, damit sie keine Blutung mehr bekommen. Beziehungsweise es ging manchmal sogar so weit in Indien, dass sie sich den Uterus oder die Eierstöcke rausnehmen lassen, damit sie nicht bluten müssen. Auch trinken Frauen bewusst zu wenig Wasser trotz der Hitze, um nicht häufig auf die Toilette gehen zu müssen. Der Toilettengang wird in der Fabrik reguliert und das führt dann wieder zu Harnwegsinfektionen und zu allen möglichen anderen Krankheiten.

Wie sind die Sicherheitsstandards in den Textilfabriken, welche Mängel bestehen, welche Maßnahmen sind erforderlich, um auch Katastrophen, z.B. den Einsturz von Gebäuden wie in Bangladesch zu verhindern?

Nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch hat sich einiges verändert. Es wurde der sogenannte Accord gegründet, dem gut 200 europäische Unternehmen beigetreten sind und diesen mitfinanzieren.[1] Seit 2014 wurden dann viele Kontrollen durchgeführt. Fabriken mit statischen Problemen wurden geschlossen. Die Sicherheitssituation hat sich verbessert, die Arbeitsbedingungen allerdings nicht. In Bangladesch sind die Sicherheitsmaßnahmen in den Fabriken besser geworden. Der Accord wird jetzt auf Pakistan ausgeweitet und auf andere Länder. In China ist das anders, dort gibt es mehr Platz und die Fabriken gehen nicht in die Höhe wie in Bangladesch, deshalb ist die Gefahr eines Einsturzes geringer.

Können sich die Betroffenen auch gegen die Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung wehren? Welche Maßnahmen gibt es?

In der Bekleidungsindustrie zu arbeiten, ist immer noch lukrativ, aber die Armut ist groß. Junge Frauen werden in die Stadt geschickt, sie gehen in Fabriken, denn es gibt kaum andere Arbeitsmöglichkeiten. Die Beschäftigten können sich nicht wehren. Das Recht auf Organisationsfreiheit, also die Freiheit, sich in Gewerkschaften zu organisieren, wird überall verletzt. Es gibt zwar Participation Committees (Beteiligungsausschüsse) in Bangladesch und Indien, aber diese werden vom Management kontrolliert. In Bangladesch werden die Komitees nicht frei gewählt, sondern oft ernannt, und das Management mischt mit. Wenn zum Beispiel eine Gewerkschaft angemeldet wird, müssen die Namen der Unterstützer:innen beim Arbeitsministerium vorgelegt werden. Das Ministerium ruft dann sofort den Besitzer der Fabrik an und der entlässt die Unterstützer:innen am nächsten Tag. Das ist gefährlich und schwierig für die Arbeiter:innen.

Welche Verantwortung tragen internationale Unternehmen und Zulieferer bei der Einhaltung von Gesundheits- und Arbeitsschutzstandards und wo liegen die größten Versäumnisse?

Die haben schon immer eine große Verantwortung gehabt. Seit es das Lieferkettengesetz in Deutschland gibt, ist das auch gesetzlich verankert. Ein Unternehmen muss dafür sorgen, dass es in seiner Lieferkette Arbeitsrechte und Umweltschutz gewährleistet. Das tun die meisten nicht. Wir wenden uns an europäische oder deutsche Unternehmen, wenn wir von Arbeitsrechtsverletzungen bei ihren Zulieferern erfahren. Dann werden Untersuchungen gemacht, sogenannte Sozialaudits, bei denen Kontrolleure ein oder zwei Tage in der Fabrik sind und auch Arbeiter:innen befragen. Aber der Chef in der Fabrik hört mit. Sie sagen nicht, was wirklich los ist. Man muss die Beschäftigten außerhalb der Fabrik fragen, um mehr über die Arbeitsbedingungen zu erfahren. Die Sozialaudits sind nur ein Feigenblatt für deutsche und europäische Unternehmen. Damit wollen sie nach außen hin zeigen, dass sie sich um ihre Lieferkette kümmern. Ein weiteres Problem: Die Sozialaudits sind geheim. Sie werden nicht mit den Beschäftigten oder ihren Vertreter:innen geteilt. Dann könnten sie Einspruch erheben, aber das Audit wird nur zwischen Auftraggeber und Fabrik geteilt. Die Fabrik bezahlt sogar ihr eigenes Audit. Ein europäisches Unternehmen beauftragt ein Unternehmen nur, wenn es ein Audit vorzeigen kann. Die Firma, die kontrolliert wird, beauftragt den Kontrolleur. Das ist ein Teufelskreis. Die Kontrolleure wollen natürlich weitere Aufträge haben. Diese Audits haben leider zu nichts geführt in den letzten 20, 30 Jahren. Es sind einfach andere Maßnahmen notwendig. Wir müssen die Beschäftigten einbeziehen, sie befragen und mit dem Management vor Ort reden lassen. So können wir die Situation verbessern.

Kann das deutsche Lieferkettengesetz dazu beitragen, die Arbeitsbedingungen der Textilindustrie zu verbessern? Wenn ja, in welcher Form?

Es ist gut, dass es in Deutschland ein Lieferkettengesetz gibt. CDU und FDP sind dagegen und behaupten, es wäre ein Bürokratiemonster. Das ist vorgeschoben, dahinter steckt, dass sie das Gesetz verwässern oder gar zurücknehmen wollen. Es gibt verschiedene Elemente im Lieferkettengesetz, z.B. die Möglichkeit von Betroffen, eine Beschwerde einzureichen. Wir haben als eine der ersten NGOs Beschwerde bei der durchführenden Instanz, dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) am 24. April 2023 eingereicht. Das BAFA hat den Antrag geprüft und die Beschwerde angenommen, aber wir haben bis heute noch keine Antwort bekommen. Wir haben Beschwerde gegen Amazon wegen Arbeitsrechtsverletzungen seiner Lieferanten in Bangladesch im Namen einer Gewerkschaft in Bangladesch eingereicht, aber die wurde nie befragt oder informiert. Das Lieferkettengesetz ist also bisher wenig erfolgreich, was den Beschwerdemechanismus betrifft. Wir sind ziemlich frustriert. Das Gesetz hat noch andere Elemente, z. B. eine Berichtspflicht. Viele aber sagen, das Gesetz sei zu bürokratisch. Man muss nur die Unternehmen fragen. Die sehen zum Teil selbst ein, dass es nicht richtig war, den Vorgaben ihrer Rechtsabteilungen zu folgen und Fragebögen mit Hunderten von Fragen an alle Lieferanten zu verschicken. Das schafft Bürokratie, aber die verlangt nicht das Lieferkettengesetz. Im Gegenteil, Unternehmen sollen sich auf die Risikoländer und Risikosektoren konzentrieren und müssen vor allem da ihre Lieferkette kontrollieren. Außerdem werden Berichtspflichten durch die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) auf europäischer Ebene schon abgefragt, es muss nicht doppelt berichtet werden.[2] Das heißt, Unternehmen setzen das Lieferkettengesetz falsch um, indem sie nicht auf Probleme fokussieren, die wirklich in der Lieferkette vorhanden sind, sondern sie haben gleich alle Lieferanten mit solchen Fragebögen überschwemmt.

Dr. Gisela Burckhardt, Gründerin und Vorstandsvorsitzende von FEMNET e.V., eine feministische Frauen-Organisation mit Sitz in Bonn, die sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie einsetzt.

Das Interview führte Malin Stretz für das Forum Umwelt und Entwicklung.

 

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