Eine Bilanz und Perspektiven für das letzte Regierungsjahr der Ampelkoalition
In unserer Publikation „Gesetze für Nachhaltigkeit“ haben wir 2021 über 100 Gesetzesvorschläge gesammelt, durch die Nachhaltigkeit verbindlich in der deutschen Gesetzgebung verankert werden könnte. Drei Jahre nach Veröffentlichung der Broschüre und ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl stellt sich die Frage: Wie steht es um die Nachhaltigkeitspolitik der Ampelkoalition?
Mit einem SDG-Gesetze-Tracker überprüfen wir seit Beginn der Legislaturperiode, welche der Gesetzesvorschläge für Nachhaltigkeit die Ampelkoalition umsetzt. Denn immerhin knapp die Hälfte der von uns vorgeschlagenen Gesetze wurde so oder ähnlich im Koalitionsvertrag vereinbart. Von diesen 50 Gesetzen ist bisher ungefähr ein Drittel umgesetzt.[i] Ein weiteres Drittel befindet sich in Bearbeitung. Diese Zahlen ähneln dem Anteil an den gesamten Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, die bislang umgesetzt wurden[ii]. Nachhaltigkeitsgesetzgebung wird also nicht unbedingt vernachlässigt, einen besonderen Schwerpunkt darauf gibt es allerdings auch nicht.
Angesichts der Tatsache, dass die Bundesregierung, deren Koalitionsvertrag das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit bereits im Titel trägt, weniger als ein Jahr in dieser Legislaturperiode vor sich hat, ist diese Bilanz nicht zufriedenstellend.
Umwelt und Klima
Die Erfüllung der ökologischen Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG 6 ,13,14 und 15) ist eine der Grundlagen für die Erreichung aller anderen Ziele. Nur in intakten, sauberen Umwelten können Gesellschaften überleben und prosperieren. Doch leider werden genau diese Ziele oft vernachlässigt.
Von unseren sieben Vorschlägen für die Umsetzung von SDG 13 (Maßnahmen zum Klimaschutz) sollten laut Koalitionsvertrag gerade einmal zwei umgesetzt werden: die Beendigung klimaschädlicher Subventionen und ein Klima-Check für neue Gesetze. Bei beiden Vorschlägen ist noch nichts passiert, obwohl beide wichtige Ansatzpunkte wären. Nach Schätzungen des Umweltbundesamts belaufen sich umweltschädliche Subventionen auf über 65 Milliarden Euro jährlich.[iii] Daraus folgen nicht nur Umweltzerstörung und Klimaschäden, es geht gleichzeitig auch viel Geld verloren, das andernfalls für Naturschutz und klimafreundliche Infrastruktur genutzt werden könnte. Die Beendigung klimaschädlicher Subventionen sollte also im kommenden Jahr priorisiert werden. Gleichzeitig muss auch der Klima-Check für Gesetze endlich umgesetzt werden, damit zumindest zukünftig neue Regelungen den Klimaschutz nicht konterkarieren.
Darüber hinaus gibt es weitere einfach umzusetzende Gesetze für mehr Klimaschutz, bspw. ein Tempolimit auf Autobahnen und Landstraßen, welches ein Großteil der Bevölkerung begrüßen würde.[iv] Leider ist nicht absehbar, dass sich die Ampelkoalition darauf einigt.
SDG 14 (Leben unter Wasser) wird bisher fast gänzlich vernachlässigt. Hier fehlt scheinbar das grundsätzliche Bewusstsein, dass die Meere nicht nur zu Wirtschaftszwecken dienen, sondern als Voraussetzung dafür erhalten und geschützt werden müssen. Das sollte im Bundesnaturschutzgesetz rechtlich verankert werden, aber momentan fehlt dort eine Gleichberechtigung von Nutzung und Schutz. Stattdessen werden Nutzungsinteressen begünstigt. Im Seefischereigesetz müssten unbedingt ökologische und soziale Kriterien ergänzt werden, um Überfischung und Ausbeutung zu vermeiden und eine bessere Dokumentation von Fischereiaktivitäten zu erreichen.
Soziales und Gesundheit
Hinsichtlich politischer Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, Gesundheit, sozialer Sicherung und Bildung ist Deutschland etwas besser aufgestellt. Es sind einige Projekte der Ampel in Planung oder auch schon abgeschlossen. In der Gesundheitspolitik positiv hervorzuheben ist die Einführung eines neuen Personalbemessungssystems in der Pflege im Juli 2023. Künftig muss der Personalbedarf für jede Langzeit-Pflegeeinrichtung individuell an der Anzahl der Pflegebedürftigen und deren Pflegegrad bemessen werden. Dadurch wird der bislang vorherrschende Flickenteppich in Deutschland vereinheitlicht. Im sozialen Bereich sind die Erhöhungen des Rentenniveaus oder des BAföG-Grundbedarfssatzes zu nennen. Auch die Einführung des Bürgergeldes war prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch wurde der erhoffte konsequente Bruch mit der Hartz-IV-Logik nicht umgesetzt und die Regelsätze sind immer noch viel zu niedrig. Um Armut wirklich zu vermeiden, müssten die Leistungsbezugssätze jedoch deutlich ansteigen, da die aktuelle Erhöhung gerade mal die Inflation ausgleicht.
Dass die Reformen nicht ausreichen, zeigt sich auch darin, dass (soziale) Ungleichheit in Deutschland immer größer wird.[v] Das liegt auch daran, dass in den Bereichen Asyl und Migration sowie Gleichstellung und Diskriminierung viel zu wenig passiert. Was hier beispielsweise notwendig wäre: die versprochene Weiterentwicklung des Entgelttransparenzgesetzes, ein allgemeines Recht auf Bildung und Zugang zur Regelschule für Kinder/Jugendliche mit Fluchterfahrung oder ein generelles kommunales Ausländerwahlrecht. Eine naheliegende Maßnahme, um mehr (finanzielle) Gleichheit zu erreichen, wäre die Wiedererhebung der Vermögenssteuer bzw. Reform der Erbschaftssteuer. Durch solche Reformen könnten gleichzeitig auch Einnahmen generiert werden, die sich dann zum Beispiel für soziale Absicherung oder öffentliche Infrastruktur nutzen lassen.
Fehlende Finanzierung und zähe Prozesse
Leider gibt es auch einige Nachhaltigkeitsthemen, die zwar im Koalitionsvertrag vereinbart wurden, nun aber wieder auf der Kippe stehen. Ein durchgehender Streitpunkt in der Ampelkoalition war immer die Finanzierung. Ein Beispiel dafür ist die Kindergrundsicherung – von den Parteien im Koalitionsvertrag vereinbart, gab es von Anfang an heftige Diskussionen darüber, wie viel Geld für sie bereitgestellt werden könne. Das ehemalige soziale Großprojekt ist inzwischen deutlich abgespeckt. Dass diese Reform inzwischen so verwässert ist und kaum noch substanzielle Veränderungen beinhaltet, ist eine herbe Enttäuschung und ein Armutszeugnis für die Prioritäten der Ampel.
Insbesondere für die FDP stand in den Haushaltsverhandlungen die Einsparung von Mitteln immer an oberster Stelle, egal, welche Investitionen nicht nur aus ethisch-moralischen Gründen, sondern auch aus wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht nötig wären, um soziale, ökologische, aber auch finanzielle Folgeschäden zu vermeiden. Doch auch die anderen Ampelparteien haben immer wieder substanzielle Kürzungen ermöglicht, während auf der andere Seite Ausgaben für das Militär massiv gestiegen sind.
Außerdem herrscht seit mindestens zwei Jahren ein Koalitionsklima, das aus vielen Entscheidungen ideologische Kämpfe macht und aus eigentlich längst vereinbarten Kompromissen erneut zähe Verhandlungen und energiezehrende Konflikte. Dadurch stecken viele Gesetze in verschiedenen Stadien ihrer Umsetzung fest und es fehlen gleichzeitig Kapazitäten für weitere Nachhaltigkeitsinitiativen.
Wie wäre es mit zukunftsweisender Politik als Wahlkampf?
Für das letzte Regierungsjahr gäbe es einige wichtige, jetzt umzusetzende Instrumente, die auch über die Regierungszeit der Ampelkoalition hinaus genutzt werden sollten, um die gesetzliche Verankerung der Nachhaltigkeitsziele zu verbessern.
Zum einen sollten Rechtsansprüchen ausgebaut werden, damit alle Menschen in Deutschland rechtlich abgesichert sind, um bspw. entsprechend unseren Gesetzesvorschlägen sauberes Trinkwasser zu bekommen, Schutz und Hilfe bei Gewalt zu erhalten oder ihre Kinder auch zu Randzeiten betreuen lassen zu können. Vermehrt mit Rechtsansprüchen zu arbeiten, baut Druck auf, Systeme und Dienstleistungen zu verbessern. Der Staat muss dann den Rechtsansprüchen entsprechende Grundlagen schaffen. So würde ein Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen dazu führen, dass Frauen eine Rechtsgrundlage hätten, auf welcher sie ihren Schutz geltend machen und notfalls einklagen könnten. Frauenhäuser und Fachberatungsstellen würden durch einen solchen Rechtsanspruch ebenfalls mehr finanzielle Unterstützung erhalten, um ihre Aufgabe erfüllen zu können.
Unser derzeitiges Rechtssystem behandelt Umweltthemen oft nachrangig: „[L]eider sieht die herrschende Rechtslage – bis auf einige Ausnahmen – für den Klima- und Naturschutz nicht sehr gut aus. Generell schützt das geltende Recht vor allem bestehende (Nutzungs-)Interessen, insbesondere der Wirtschaft, gerade auch der fossilen Konzerne“, erklären Alexandra Endres und Roda Verheyen im 2024 erschienenen Sammelband Unlearn CO2.[vi]
Ein umwelt- und sozialgerechtes Rechtssystem würde für andere Prioritäten sorgen und könnte bei der Umsetzung und Einforderung der Transformation helfen. Ein solches Beispiel wäre ein Mobilitätsgesetz, das ÖPNV, Fuß- und Radverkehr künftig Vorrang vor motorisiertem Individualverkehr einräumt. Das würde dafür sorgen, dass bei Planungsverfahren zwangsläufig diese Perspektive mitgedacht werden muss.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die notwendige Vorreiterrolle des Staates bei nachhaltiger Beschaffung und Sustainable Finance (also finanzwirtschaftliche Ansätze und Instrumente, die sich auch an Nachhaltigkeitskriterien orientieren). Strengere soziale und ökologische Kriterien für die öffentliche Beschaffung und Vergabe sowie öffentliche Anlagen haben großes Potenzial, weiterreichende Veränderungen zu bewirken (z.B. Umstellung der Pensionsfonds auf nachhaltige Anlagekriterien, nachhaltige Kriterien für die Vergabe von Krisenhilfen und Konjunkturpaketen, vertragliche Fixierung von menschenrechtlichen und umweltbezogenen Kriterien für die Vergabe öffentlicher Kredite).
Schließlich muss es nicht nur für das kommende, sondern auch für die Jahre danach oberste Priorität sein, öffentliche Investitionen in gute und nachhaltige Infrastruktur deutlich zu erhöhen. Wir befinden uns mitten in einer Transformation – unsere Welt wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten massiv verändern. Diese Transformation aktiv zu gestalten, ist die Aufgabe der Politik. Es braucht gesetzliche Regelungen und öffentliche Infrastruktur, welche die anstehenden Veränderungen in eine Richtung lenken, die Mensch und Planet in den Mittelpunkt stellt. Das bedeutet massive Investitionen in Bildung (auch zur Förderung der Chancengerechtigkeit), in Mobilitätsinfrastruktur und in Klima- und Umweltschutz.
Was jetzt für das letzte Jahr dieser Legislaturperiode gebraucht wird, ist eine Aufbruchstimmung in Richtung Nachhaltigkeit. Interne Koalitionsstreitigkeiten dürfen nicht von wichtiger Arbeit ablenken. Es kann und sollte genau jetzt die Aufgabe sein, Versprochenes umzusetzen und zu Ende zu bringen, denn das wird letztendlich auch die Wähler:innen überzeugen.
Eileen Roth und Judith Hermann waren Referentinnen für Nachhaltigkeitspolitik beim Forum Umwelt und Entwicklung.
Quellen:
[i] Viele der Gesetze, die wir als „umgesetzt“ klassifizieren, wurden in einer abgeschwächten oder veränderten Form als von uns gefordert verabschiedet. Wir haben im Einzelfall jeweils abgewogen, welcher Kategorie wir sie zuordnen. In vielen Fällen haben wir sie der „Umgesetzt“-Kategorie aufgelistet, da wir eine Aufsplitterung in zu viele Unterkategorien vermeiden wollten.
[ii] https://fragdenstaat.de/koalitionstracker/
[iii] Umweltbundesamt (2021): Umweltschädliche Subventionen in Deutschland https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/479/publikationen/texte_143-2021_umweltschaedliche_subventionen.pdf
[iv] ADAC (2024): Tempolimit auf Autobahnen: Die Fakten
https://www.adac.de/verkehr/standpunkte-studien/positionen/tempolimit-autobahn-deutschland/
[v] Sustainable Development Solutions Network (2024): SUSTAINABLE
DEVELOPMENT REPORT 2024. The SDGs and the UN Summit of
the Future https://s3.amazonaws.com/sustainabledevelopment.report/2024/sustainable-development-report-2024.pdf
[vi] Endres, A. & Verheyen, R. (2024). unlearn recht. In C. Kemfert, J.Gupta & M. Kronenberg (Hrsg.), Unlearn CO2. Zeit für ein Klima ohne Krise (S. 85-102). Ullstein.
Bild: (c) Clara Hüsch