Europas Trojanisches Pferd der fossilen Industrie.
Mit der Verschärfung der Klimakrise besteht breiter Konsens darüber, dass wir entschlossen und unverzüglich handeln müssen, um den Klimakollaps durch Treibhausgasemissionen zu verhindern. Diese drängenden Fakten stehen allerdings im direkten Widerspruch zu Interessen von Unternehmen und Industrie, die von der andauernden Förderung und Verbrennung fossiler Brennstoffe profitieren. Angesichts drohender Profitverluste ist die fossile Industrie nicht bereit, freiwillig ihr Geschäft aufzugeben.
Konzernchefs haben wissenschaftliche Warnungen schon seit Jahrzehnten wahrgenommen und sind sich seit Langem der Gefahren ihrer Aktivitäten für den Planeten bewusst. Doch statt sich nachhaltigen Alternativen zuzuwenden, haben sie einen Plan entwickelt, um ihr Überleben zu sichern. Seit den späten 2000er-Jahren verfolgen sie die Strategie eines „Trojanischen Pferdes“, um Profitinteressen als Klimalösung zu tarnen. Inzwischen hat diese Strategie die höchsten Ebenen der europäischen Politik und Gesetzgebungsprozesse erreicht. So hat sich die Industrie in einer Position gebracht, in der sie die Klimapolitik beeinflusst und sicherstellt, dass fossile Brennstoffe Teil der europäischen Energieversorgung bleiben.
Die fossile Industrie präsentiert eine „Lösung“: Kohlenstoffabscheidung
Das Problem: Carbon Capture and Storage (CO₂-Abscheidung und Speicherung, CCS) ist unerschwinglich teuer. Und auch nach 40 Jahren Forschung und Erprobung zeigt die Methode wenig bis keine Fortschritte. Zudem funktioniert CCS nicht als Klimaschutzlösung. Es dient als Greenwashing-Trick, um den notwendigen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu verzögern und industrielle Gewinne zu schützen.
Das Industrial Carbon Management Forum (Forum für industrielles Kohlenstoffmanagement, ICM-Forum) ist das Trojanische Pferd der fossilen Industrie in Europa. Es ist ein Paradebeispiel für die unternehmerische und industrielle Vereinnahmung klimapolitischer Themen direkt vor unseren Augen. Von der Industrie dominierte Arbeitsgruppen haben dort Mandate zur Mitgestaltung der europäischen Energiepolitik erhalten. Letztendlich wird das unweigerlich zu einer Verschwendung von Milliarden von Steuergeldern zugunsten der fossilen Industrie führen.
CCS wird als zentrale Säule der sogenannten Klimainitiativen der fossilen Industrie präsentiert, stellt aber tatsächlich nur den Versuch dar, essenzielle Maßnahmen zum Klimaschutz abzuwenden, die für die Industrie profitgefährdend sind. Diese Rechnung geht nicht auf.
Innerhalb von 50 Jahren wurden 83 Milliarden Euro weltweit in Technologien der Kohlenstoffabscheidung investiert – mit vernachlässigbaren Ergebnissen. In allen EU-Mitgliedstaaten werden jährlich nur 1,9 Millionen Tonnen CO2 abgeschieden, der größte Teil davon (1,7 Mio t.) in Norwegen. Insgesamt macht das mickrige 0,076 % der Gesamtemissionen von 2,5 Milliarden Tonnen der EU im Jahr 2023 aus. Im Vergleich dazu speichert die Torfmoorregion Flow Country 0,456 % davon in ihrem natürlichen Torf. Weltweit wurden durch die CO2-Abscheidung bloß 53 Millionen Tonnen CO2 gebunden.
Ein Bericht der Universität Oxford[i] bestätigt die Kritik an der Technologie. Er zeigt, dass in 40 Jahren in keinem Teil des Abscheidungs-, Transport- oder Speicherprozess technologische Verbesserungen oder Kostensenkungen nachgewiesen werden konnten. Noch alarmierender ist, dass ein Weg mit hohen CCS-Kapazitäten atemberaubende 20 Billionen Dollar mehr kosten würde als Alternativen wie Investitionen in erneuerbare Energien.
Trotz dieser Erkenntnisse hat die Europäische Union in den letzten zwei Jahren Maßnahmen ergriffen, um CCS, CCU und den CO₂-Transport in großem Maßstab auszubauen. Die jüngste dieser Bemühungen, die Industrial Carbon Management Strategy (ICMS), erhöht die Ziele für die CO₂-Abscheidung drastisch auf 450 Megatonnen. Die dafür benötigte Infrastruktur ist gewaltig und umfasst voraussichtlich 19.000 Kilometer CO₂-Pipelines bis 2040. Das würde europäische Steuerzahler:innen mindestens 16 Milliarden Euro kosten. Ein aktueller Bericht des Institute for Energy Economics and Financial Analysis[ii] (IEEFA) legt nahe, dass die CCS-Pläne der EU bis zu 140 Milliarden Euro kosten könnten. Er schlussfolgert, dass CCS zu komplex, zu teuer ist und zu spät ist, um die Net-Zero-Ziele zu erreichen.
Um diese Ziele zu erreichen, müsste die EU ihre Kapazitäten zur CO2-Abscheidung in den nächsten 25 Jahren mindestens um das 200-Fache erhöhen. Laut Chris Davies, Vorsitzender der Pro-CCS Lobby Gruppe CCS Europe, würde das 650 einzelne Projekte[iii] in der EU erfordern – also ein Projekt pro Woche über Jahre hinweg. Aktuell sind weltweit nur 40 solcher Projekte in Betrieb. Ungefähr 80 % aller CCUS-Projekte scheitern[iv].
Die Macht der Lobbyisten im ICM-Forum
Der Carbon Coup-Bericht des Corporate Europe Observatory (CEO) beleuchtet die verborgenen Aktivitäten des ICM-Forums. Das Forum wurde 2021 von der Europäischen Kommission als Beratungsgruppe eingerichtet und ist im Wesentlichen eine Zusammenkunft der fossilen Industrie. Es besteht aus vielen Brancheninsidern, die eng mit den Interessen der fossilen Industrie verbunden sind. Trotz Behauptungen, eine „ausgewogene“ Plattform für verschiedene Interessengruppen zu sein, hat es erheblichen Einfluss auf die CCUS-Verordnungen und die Vergabe von EU-Finanzierungen.
Jede Arbeitsgruppe des Forums wird von Vertretern der fossilen Industrie oder von Organisationen mit starken Pro-CCUS-Verbindungen geleitet. Die wenigen beteiligten NGOs befürworten CCUS und haben ebenfalls Verbindungen zur fossilen Industrie. Die Kommission stellt das Forum als ausgewogene Plattform dar. Das ist bestenfalls irreführend und schlimmstenfalls unverhohlene Täuschung.
Der Einfluss des ICM-Forums zeigt sich schon jetzt in bedeutenden EU-Richtlinien
So wurden bspw. die Infrastrukturziele im ICMS durch Vorschläge des ICM-Forums geprägt, darunter auch die bis 2040 geplanten 16 Milliarden für CO2-Pipelines. Sogar Kadri Simson, die Europäische Kommissarin für Energie, erkannte auf dem ICM-Forum 2023 den übergroßen Einfluss des Forums an und erklärte: „Sie haben einen spezifischen und überprüfbaren Zielwert für die Speicherkapazität, industrielle Unterstützung und strukturelle Lösungen gefordert … und dieser Vorschlag erfüllt genau das. Ich glaube, das ist eine Chance für Öl- und Gasproduzenten der EU.“
Noch besorgniserregender sind Bestimmungen des ICMS, die fossile Unternehmen vor Kosten, Risiken und Haftungen schützt, falls Dinge schieflaufen. Angesichts der Risiken von CO2-Pipelines ist das besonders bedenklich. Aktuelle Pipeline-Lecks in den USA führten zu Evakuierungen und Krankenhausaufenthalten. Trotz dieser Risiken zeigen die aktualisierten Leitfäden der CCS-Richtlinie große Lücken bei der Überwachung, den Selbstauskünften über Sicherheitsmaßnahmen und den begrenzten Haftungszeiträumen für die Industrie.
Obwohl das ICM-Forum erst wenige Jahre alt ist, ist der Einfluss der fossilen Brennstoffindustrie auf die Energiepolitik der EU altbekannt. Ein Bericht des CEO deckte geleakte Mails des ehemaligen Mitglieds des Europäischen Parlaments und wichtigen CCS-Befürworters Chris Davies auf. Er drohte, Initiativen für CCS-Richtlinien zu untergraben, falls seine Forderungen nicht erfüllt werden. Diese Mails offenbarten auch eine enge Zusammenarbeit zwischen Davis und Öl- und Gasfirmen, um öffentliche Mittel für CCUS zu sichern. Weitere Interessenkonflikte sind weit verbreitet, etwa der Wechsel von Johanna Fiksdahl zu Equinor, nachdem sie bei der Generaldirektion Energie der EU an der ICM-Strategie gearbeitet hat. Fiksdahl wurde vom norwegischen Ministerium für Erdöl und Energie an die Kommission abgeordnet. So verschwimmt die Grenze zwischen öffentlicher Politik und privater Industrie weiter.
Die Öl- und Gaslobby weiß, dass sie die Zukunft fossiler Brennstoffe sichern kann, wenn sie die CO2-Infrastruktur sichert. Das macht die Entscheidung der Kommission, die Forderungen des ICM anzunehmen, so gefährlich. Die Übertragung der Umsetzung wichtiger Energiepolitiken an Insider der fossilen Industrie zwingt die EU-Mitgliedstaaten, Milliarden an öffentlichen Geldern in die Hände von Unternehmen zu leiten. Letztendlich wird das auf Kosten echter Klimaschutzlösungen gehen.
Das CCUS-Forum illustriert deutlich die Einflussnahme von Unternehmen. Enthusiastisch unterstützt von der Europäischen Kommission ist es ein erheblicher Coup für die fossile Industrie. Diese Industrie hat eine lange Geschichte des Lobbyismus, um Klimaschutzmaßnahmen zu verzögern, zu schwächen und zu sabotieren. Währenddessen fördert sie weiterhin fossile Brennstoffe. Angesichts dieser Bilanz sollten Unternehmen der fossilen Industrie keinen Platz bei der Gestaltung von Klimapolitik haben.
Wenn die EU ernsthaft ihrer Verpflichtung und Verantwortung für Klimagerechtigkeit nachkommen will, muss sie eine fossilfreie Politik unterstützen. Angesichts der drohenden globalen Katastrophe dürfen wir nicht zulassen, dass der erneute Druck der Industrie für großangelegte CCUS, CO2-Infrastruktur und einen CO2-Markt als teure Ablenkung für die echten Lösungen dient.
Technologien zur Kohlendioxidabscheidung sind keine echte Lösung der Klimakrise, sondern ein Rettungsanker für die Öl- und Gasindustrie, um fossile Brennstoffe auf unbestimmte Zeit weiter zu fördern und damit auf Kosten echter Klimaschutzlösungen und unserer planetarischen Zukunft zu leben.
Belén Balanyá ist Forscherin und Aktivistin bei Corporate Europe Observatory.
Übersetzt von Paul Trinley Fischer.
Quellen:
[i]Dr. Rupert Way, Dr. Andrea Bacilieri und Richard Black 2023, Assessing the relative costs of high-CCS and low-CCSpathways to 1.5 degrees. https://www.smithschool.ox.ac.uk/news/heavy-dependence-carbon-capture-and-storage-highly-economically-damaging-says-oxford-report
[ii] Andrew Reid 2024, Carbon capture and storage: Europe’s climate gamble. https://ieefa.org/resources/carbon-capture-and-storage-europes-climate-gamble#:~:text=The%20combined%20official%20targets%20of,of%20CCS%20is%20now%20critical.
[iii] Michael Buchsbaum 2024, Big oil is the winnder from durtch carbon capture subsidies. https://www.desmog.com/2024/08/27/big-oil-is-the-winner-from-dutch-carbon-capture-subsidies/
[iv] Deepika Nagabhushan 2024, The emission reduction benefits of carbon capture and utilization and storage using CO2 enhanced oil recovery. https://www.catf.us/wp-content/uploads/2018/11/CATF_Factsheet_CO2_EOR_LifeCycleAnalysis.pdf
Bild: Carl Gruner/Unsplash